Eidernebel
Wolkendecke überzogen. Als der Hauptkommissar den Parkplatz hinter dem Gebäude erreicht und gerade die Tür seines Polos aufschließt, kündigt ihm eine Windböe an, dass sich die aufgestaute Energie am Himmel bald entladen wird. Kaum hat er die B 5 erreicht, bricht der Regen los, prasselt mit ohrenbetäubendem Lärm auf das Autodach. Die Sicht beträgt schlagartig nur noch wenige Meter. Swensen sucht einen Platz am Straßenrand, wo er ohne Gefahr anhalten kann. Grelle Lichtwurzeln brennen sich quer über den Himmel, gewaltig und bedrohlich nah, als würde ein wildgewordener Fotograf die gesamte Gegend dokumentieren. Swensen hat plötzlich das Bild von einer Nussschale im Meer vor Augen. Doch seine innere Stimme beruhigt ihn, dass er im Faradayschen Käfig seines Wagens völlig sicher ist. Im nächsten Moment erschüttert das mahlende Gebrüll eines Donners ihn bis ins Mark. Er hat das Gefühl, als würden seine Knochen vibrieren und jemand wolle seine Urängste wachrütteln. Ihm fällt die Geschichte des Buddhas ein, der in der dritten Woche nach seiner Erleuchtung unter dem Mucalinda-Baum von einem monsunartigen Regen überrascht wurde. Die im Baum wohnende Kobra wand ihren Schlangenleib um seinen Körper und spreizte ihre Halshaut über seinem Kopf, um den Erhabenen vor dem Regen zu schützen.
»In der Natur erkennen wir das allgemeine Aufeinander-bezogen-Sein allen Lebens«, hört Swensen die Stimme von Meister Rinpoche. »Wir können unser eigenes Sein nur richtig erfassen, wenn wir seine innere Spannung in einer anderen Erscheinung entdecken. Unser persönliches Sein ist nur ein Teil seiner selbst, durch das der Strom der Welt hindurchfließt.«
So schlagartig wie der Wolkenbruch gekommen ist, verebbt er auch wieder. Der Hauptkommissar wartet noch eine Weile, dann setzt er seine Fahrt fort. Aus den Wiesen treiben Nebelschwaden über die Straße. Vorsichtig steuert er den Wagen durch den milchigen Dampf, der ihm immer wieder für einen kurzen Moment die Sicht nimmt. Beinahe übersieht er die Abbiegung nach Witzwort. Es geht schon auf 23.30 Uhr zu, als er den Wagen vor seiner neuen Wohnstätte abstellt. Die Fenster sind dunkel, Anna dürfte bereits ins Bett gegangen sein. Swensen schließt leise die Haustür auf, schleicht, ohne Licht anzumachen, in die Küche und setzt sich auf einen Küchenstuhl. Das leise Brummen des Kühlschranks dringt monoton in seine Gedanken. Er schließt die Augen, sieht sofort die Fotos der drei ermordeten Frauen, die Colditz an die Pinnwand im Konferenzraum geheftet hat.
»Unser erstes Opfer, Andrea Goldschmidt. Schülerin, 18 Jahre, aus Oldenswort. Getötet in der Kirche von Witzwort. Sechs Messerstiche mit einer 15 Zentimeter langen Klinge, vier in der linken Unterschlüsselbein-Region, zwei im Bauchbereich. Zwei Stiche waren sofort tödlich. Keine Abwehrspuren an Händen und Armen. Keine Spermaspuren. Sie wurde mit
K.-o.-Tropfen betäubt.«
Colditz deutet auf das zweite Foto, das ein brünettes Frauengesicht zeigt.
»Das zweite Opfer, Dorit Missler, Angestellte in einer Libo-Filiale in Friedrichstadt, 25 Jahre, wohnhaft in Friedrichstadt. Getötet in der Kirche von Osterhever. Wieder eine 15 Zentimeter lange Klinge, elf Messerstiche, ebenfalls zwei davon verletzten das Opfer tödlich. Ältere Hämatome an Gesicht, Händen und Beinen. K.-o.-Tropfen im Blut.«
Das letzte Foto, auf das Colditz deutet, zeigt eine Frau mit blonden Haaren und einem länglichen Gesicht.
»Opfer Nummer drei, Franziska Giese, in der Libo-Filiale Husum tätig, 39 Jahre, tot vor der Kirche in Uelvesbüll abgelegt. Wurde schwer gefoltert, tiefe Schnittverletzungen und Hautschnitte, sieben Stichverletzungen, nicht alle mit einem Messer, mit großem Blutverlust. Die zwei tödlichen Stiche sind aber wieder mit einem Messer mit langer Klinge erfolgt. Es gibt eindeutige Würgemale am Hals. Sie wurde ins Gesicht geschlagen, sodass es zu Nasenbluten kam. Nach ihrem Tod wurde der Bauch aufgeschnitten und der Darm herausgezogen. Wenn ihr auch K.-o.-Tropfen gegeben wurden, so konnten die nicht mehr nachgewiesen werden.«
Colditz wendet sich mit einem fragenden Blick an die Beamten der SOKO. Es herrscht beklommenes Schweigen, jeder ahnt, was alle denken.
»Sieht das jetzt nach einem eindeutigen Serientäter aus, Kollegen, oder nicht?«, traut Colditz sich endlich, die unangenehme Frage in den Raum zu stellen.
Es ist ein Serientäter! Die Tatsache geistert durch Swensens Kopf, wird mit vagen
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