Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
Vom Netzwerk:
Achseln.
    »Heeh, ich täusch mich doch nicht! Irgendwas ist los, oder?«
    »Also, ehrlich gesagt …«, druckst Anna herum, »aber … gerade dieses Wochenende ist ein wenig ungünstig.«
    »Du wolltest unbedingt, dass wir zusammen was unternehmen!«
    »Deswegen machen wir’s ja auch. Ich weiß doch, dass ich mich im Moment an deine kappe Zeit anpassen muss.«
    »Was ist denn gerade so ungünstig bei dir?«
    »Mein Vortrag auf dem Storm-Symposium in diesem Monat, die psychologische Deutung seiner Märchen.«
    »Aber den hast du mir doch schon vorgetragen. Ich denke der ist fertig?«
    »Ist er ja eigentlich auch. Mir ist nur noch eine Idee gekommen, die Novelle ›Psyche‹ mit in den Vortrag aufzunehmen.«
    »Psyche? Ist das ein Märchen?«
    »Im Grunde nicht, aber ich finde, gerade diese Novelle hat aus heutiger Sicht etwas unfreiwillig Märchenhaftes.«
    »Psyche, eine Figur aus der griechischen Götterwelt, oder?«
    »Richtig, der Mythos wurde von Lucius Apuleius überliefert, 170 nach Christus, soweit ich weiß. Steht in dem Buch: ›Der goldene Esel‹. Im Mythos wird Psyche als schmetterlingsartiges Wesen beschrieben, die wegen ihrer Schönheit den Zorn der Venus auf sich zieht.«
    »Ich hab überhaupt keine Ahnung, um was es in der Geschichte geht.«
    »Nun, Venus befiehlt ihrem Sohn Amor, Psyche dazu zu bringen, sich in einen schlechten Menschen zu verlieben. Doch Amor erliegt der Schönheit der Psyche und entführt sie in ein Zwischenreich zwischen Erde und Himmel. Die neidischen Schwestern der Psyche stacheln sie auf, dass ihr Geliebter eine Schlange von furchtbarer Gestalt sei. Darauf schleicht sich Psyche mit einer Öllampe und einem Messer in sein Gemach. Dort erblickt sie den schönen Körper des geflügelten Amors. Der Gott, ärgerlich über ihren Verrat, fliegt davon. Untröstlich stürzt Psyche sich ins Wasser und wird vom Meeresgott gerettet und an Amor zurückgegeben.«
    »Und was hat Storm damit zu tun?«
    »Der beruft sich in seiner Novelle auf Apuleius. Darin wird ein Mädchen von einem Bildhauer vor dem Ertrinken gerettet. Der Künstler verliebt sich und schafft in seiner Sehnsucht eine Skulptur, die er die ›Rettung der Psyche‹ nennt und die auf einer Ausstellung ein großer Erfolg wird. Dem Publikum wird schnell klar, dass der dargestellte Poseidon eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Künstler aufweist.«
    »Der Meeresgott sticht Amor aus?«
    »Genau! Das interessierte mich an dieser Geschichte. Storm benutzt seine übersprudelnde Heldin dazu, um die Ideale mit der Wirklichkeit zu verbinden. Mir scheint, dass dies ziemlich märchenhaft ausgefallen ist, weil er seine Psyche von Anfang an so rein und unschuldig beschrieben hat.«
    »Zumindest bekomm ich langsam eine Ahnung von deinem persönlichen Mythos«, stellt Swensen fest. »Du würdest im Moment lieber an deinem Vortrag rumdifteln, als mit mir durch den Schlamm zu waten, stimmt’s?«
    »Menschen, die wie die alten Friesländer am Wasser wohnen, zeichnen sich besonders durch ihre Kühnheit und Freiheitsliebe aus.«
    »Ist das von Storm?«
    »Nein, von der Schriftstellerin Isabelle Nowotny, einer glühende Verehrerin von ihm.«
    »Als dein glühender Verehrer werde ich dir gelassen deine gedankliche Abwesenheit verzeihen«, grinst der Hauptkommissar.
    Er stapft in das Bett eines Priels, in dem knöcheltiefes Wasser steht. Winzige Garnelen mit glasigen Körpern strampeln in kleinen Resttümpeln ums Überleben, warten voller Energie auf die Flut. Die Schlammfläche dahinter ist voll mit gekringelten Röhren, die von marinen Würmern aus dem Schlick gepresst wurden. Swensens Auge streift durch eine Miniaturlandschaft aus Wellenrippeln mit mosaikartigen Übergängen, die sich in einer steten, unscheinbaren Verwandlung befindet. Die süße jodhaltige Luft aus Schöpfung und Verfall weckt seine Lebensgeister, versetzt ihn in eine euphorische Grundstimmung.
    »Wie weit seid ihr in euren Mordfällen?«, fragt Anna den munter voranschreitenden Hauptkommissar. »Oder hast du keine Lust darüber zu sprechen?«
    »Doch schon«, antwortet Swensen nach kurzem Überlegen. »Aber es gibt nichts Neues, nur dass Colditz eine Kriminalpsychologin in unser Team geholt hat.«
    »Eine Profilerin?«
    »Sie möchte lieber als Fallanalytikerin bezeich…« Der Kriminalist bricht mitten im Satz ab und deutet in Richtung Horizont. »Heeh, Anna, guck mal was da von draußen aufzieht!«
    Eine mächtige Nebelwand treibt vom Meer heran und keine fünf Minuten später

Weitere Kostenlose Bücher