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Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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werden die beiden von einem feinen, feuchten Dunst verschluckt, der zunehmend dichter wird. Obwohl sie sofort umkehren, ist es schon zu spät. Swensen kann kaum mehr die Hand vor Augen sehen, geschweige denn nur einen Hauch von der Küste erkennen. Anna klammert sich an seine Schulter.
    »Was ist das, Jan?«, fragt sie mit Panik in der Stimme.
    »Eine Seenebelbank. Draußen über der Nordsee muss es eine plötzliche Abkühlung gegeben haben und mit der Flut hat der Wind den Schlamassel hierher geblasen.«
    »Was machen wir jetzt? Wie kommen wir wieder zurück?«
    »Erst einmal ganz ruhig bleiben«, sagt Swensen und drückt Anna an sich. »Es wäre falsch, wenn wir blind drauflosstürmen. Am besten wir bleiben erst einmal hier stehen und warten ab. Es sind noch eine Menge anderer Personen im Watt, viel weiter draußen als wir. In St. Peter haben die in der Zwischenzeit bestimmt schon mitbekommen, was sich hier draußen zusammengebraut hat. Es wird sicher bald Hilfe kommen.«
    Die schwüle Luft ist mit dem Nebel einer empfindlichen Kälte gewichen. Annas nackte Arme sind mit einer Gänsehaut überzogen. Eine unheimliche Stille herrscht um sie herum, kein Meeresrauschen, kein Möwengeschrei. Swensen muss an den letzten Dienstag denken, als sie zwischen Tür und Angel ihre Geburtstagsgeschenke ausgetauscht haben. Anna war 47 und er 56 geworden.
    Wer hat schon am selben Tag Geburtstag?, denkt er voll Ironie. Hoffentlich werden wir jetzt nicht auch noch am selben Tag sterben.
    Die Minuten scheinen sich zu Stunden in die Länge zu ziehen. Dann endlich weht ein erlösendes Sirenengeheul von der Küste herüber. Eine quäkende Lautsprecherstimme fordert alle Wattwanderer auf, unbedingt die Ruhe zu bewahren und sich in Richtung Sirenenton zu bewegen. Die Orientierung ist so schlagartig zurück, wie sie verloren war. Doch der Weg der Rettung ist für Swensen wie ein Gang durch die Unendlichkeit des Raums.
     
    »Einsicht ist das Wesen des Geistes sowie der Leerheit. Wohin sie uns führen soll, ist jener Zustand, wo der Geist in sich selbst ruht: jenseits aller Verbalisierung und aller Begriffe, wo Denken zur Ruhe kommt und nur das hellwache Gewahrsein besteht.«
     
    »Ich wurde schon so oft vor diesem Nebel gewarnt«, stellt Anna nachdenklich fest, als sie ihren Wagen wieder erreicht haben, »aber richtig begreifen kann man die Gefahr doch erst, wenn man sie einmal selbst erlebt hat.«
    Swensen schlägt vor, nach diesem Schreck auf direktem Weg nach Hause zu fahren, um den Rest des Tages im sicheren Garten zu verbringen. Anna stimmt auffallend freudig zu und er ahnt gleich, dass sie noch an ihrem Vortrag arbeiten möchte. Letztlich kommt es ihm nicht ganz ungelegen, denn so kann er heute endlich mal wieder etwas länger meditieren.
    Als sie in Witzwort ankommen ist es früher Nachmittag. Hier im Innland strahlt der Himmel genauso blau wie vor ihrer Abfahrt. Der Nebel muss an der Küste hängen geblieben sein. Anna schnappt sich mit einem Augenzwinkern ihr Manuskript und verschwindet in den Garten. Swensen ruft ihr von der Terrassentür hinterher, dass er zum Meditieren nach oben auf sein Zimmer geht und danach für den Kaffee sorgt. Als er am Wohnzimmertisch vorbeikommt, entdeckt er den aufgeschlagenen ersten Band der gesammelten Werke von Theodor Storm. Ein augenfällig gelb markierter Abschnitt erregt seine Aufmerksamkeit. Er beugt sich über die Seite und stellt fest, dass es in der Textpassage um diesen – von Anna beschriebenen – Bildhauer geht, der sich Gedanken zu dem Mythos von Amor und Psyche macht. Voll Neugier beginnt er zu lesen:
     
    ›Wie erzählt nur Apulejus das anmutige Märchen? – Psyche, das arme leichtgläubige Königskind, hatte den neidischen Schwestern ihr Ohr geliehen: ein Ungeheuer sei der Geliebte, der nur in purpurner Nacht bei ihr verweilen wolle. Nach dem Rate der Argen, mit brennender Lampe und mit scharfem Stahl bewehrt, war sie an das Lager des Schlafenden getreten und erkannte, bebend vor Entzücken, den schönsten aller Götter. Aber die Lampe schwankte in der kleinen Hand, ein Tropfen heißen Öls erweckte den Schlafenden, und zürnend entriss der Gott sich ihren schwachen Armen und hob sich in die Luft. Aus dem Wipfel einer Zypresse schalt er die törichte Geliebte; dann breitete er aufs Neue die Schwingen aus und flog zu unsichtbaren Höhen. – – – O süße Psyche! Als im leeren Luftraum dein Auge ihn verlor, da hörtest du die Wellen des nahen Stromes rauschen; da sprangst du

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