Eidernebel
Tagen erzählt, dass der Husumer Pastor Hermann Tast 1524 die erste evangelische Predigt auf dem Marktplatz von Garding gehalten hat. Hättest du das gewusst?«
»Wer ist Hermann Tast?«, fragt Silvia, stellt den Motor ab und schaut genervt zum Himmel. »Ich weiß nur, dass Martin Luther 1517 seine Thesen an die Schlosskirche von Wittenberg genagelt hat.«
»Das ist der kleine Unterschied zwischen dir und Stephan«, grinst Swensen, steigt aus und wuchtet den Sitz nach vorn, damit Helene Klein problemlos aussteigen kann. Der Küster, mit dem der Hauptkommissar telefonisch einen Termin vereinbart hat, wartet offensichtlich bereits an der Kirchenpforte. Der Mann begrüßt Swensen, Klein und Haman, führt sie den Weg zur Warft hinauf und schließt die Kirchentür mit einem nagelneuen Sicherheitsschlüssel auf.
Die beiden anderen Kirchen hatten richtig alte Schlösser, erinnert sich Swensen und fragt spontan: »Hat die Tür ein neues Schloss?«
»Nicht nur ein neues Schloss«, knurrt der etwas bärbeißige Mann. »Wir haben im letzten Jahr eine ganz neue Kirchentür bekommen. 10.000 Euro, die Spende einer betuchten Witwe aus unser Gemeinde.«
Swensen hatte bereits vor Wochen, während der Ermittlungen im Kirchenumfeld, mit dem Küster gesprochen, der schon damals unterschwellig abweisend gewesen war. Deswegen geht er gleich auf Distanz und überlässt Silvia Haman das Feld, die dem Mann ins Kirchenschiff folgt. Helene Klein bleibt neben Swensen vor der halb offenen Tür stehen, dreht sich langsam um die eigene Achse und mustert das Umfeld des Kirchengeländes. Danach kniet sie an der Treppenstufe nieder, als gebe es jetzt noch etwas zu entdecken.
»Nach den Fotos vom Tatort hat der Täter die Leiche hier vor die Tür geschleift«, spricht die Profilerin leise vor sich hin, als rede sie mit sich selbst. »Die Ermordete liegt auf dem Rücken. Er klappt die Plane auf, als wollte er die Verletzungen der Frau zur Schau stellen.«
»’schuldigung, aber ich hab zufällig mitgehört«, drängt sich der Hauptkommissar in ihre Überlegungen, »sagt das Zurschaustellen etwas über den Täter aus?«
»Das Verhalten eines Täters spiegelt seine Persönlichkeit«, antwortet Helene Klein kurz angebunden. »Ich versuch mir erst einmal ein Bild zu machen. Deshalb würde ich jetzt auch gern die Kirche von innen ansehen.«
Sonnenlicht flutet durch das Bogenfenster und taucht das Gold des Altars in einen außerirdischen Glanz. Swensen sieht, dass Silvia mit dem Küster am achteckigen Taufstein steht. Der redet auf sie ein und klopft mit der Hand gegen den Marmor. Als der Hauptkommissar und die Profilerin die beiden fast erreicht haben, zieht der Mann die Oberkommissarin weiter zu einem holzgeschnitzten Epitaph.
»Schauen Sie nur«, hört Swensen ihn erklären, indem er auf zwei Frauenfiguren deutet, die vor einem Christus am Kreuz knien, »die tragen eine typisch Eiderstedter Tracht. Und hier unter dem Sockel das Gesicht eines Indianers, daneben Kaffee- und Kakaopflanzen. Das zeugt von dem blühenden Handel im 16. Jahrhundert.«
»Hast du eine Vermutung, warum der Täter das Opfer in dieser Kirche nicht in den Innenraum gebracht hat, Jan?«, fragt Helene Klein, nachdem sie längere Zeit das Tonnengewölbe des Gebäudes angeschaut hat.
»Nicht wirklich«, sagt Swensen achselzuckend. »Ich überlege gerade, ob es vielleicht an der neuen Kirchentür liegen könnte. Bei den anderen Kirchen kann der Täter einen Nachschlüssel gehabt haben. Hier wurde unerwartet eine neue Kirchentür eingesetzt. Ich spekuliere einmal: Sein Nachschlüssel hat nicht gepasst.«
»Keine schlechte Schlussfolgerung«, bekräftigt Helene Klein, »das würde sein Verhalten erklären, dass er die Leiche in diesem Fall vor der Tür präsentieren musste. Er möchte grundsätzlich, dass seine Tat die größtmögliche Aufmerksamkeit erregt und dabei kennt er weder Mitleid noch Schuld oder Reue.«
»Bleibt die Frage: Warum macht der Mann das?«
»Im Moment können wir nur fragen: Was ist geschehen? Die Kirchen zu einem Tatort zu machen, scheint dem Täter viel zu bedeuten. Die Einzigartigkeit seiner Vorgehensweise deutet auf einen religiösen Hintergrund. Nehmen wir uns die letzte Kirche in Witzwort vor.«
Auf der Fahrt nach Witzwort bleibt Helene Klein erneut stumm. Swensen sieht aus dem Augenwinkel, dass sie in Gedanken versunken aus dem Fenster schaut. Auch Silvia sagt kein Wort, parkt gegenüber vom Witzworter Markttreff und marschiert abwesend mit
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