Eiertanz: Roman (German Edition)
Überraschung? Ich nahm mir vor, Therese bei Gelegenheit danach zu fragen, und stieg in den Bus.
Bruce hatte immer noch ein Problem damit, zuzugeben, dass er nicht zwischen Parkplatz und See unterscheiden konnte. Er schwieg die ganze Strecke über, egal, wie oft ich säuselte, er möge es mir doch bitte nicht übelnehmen, dass ich mich seinen herrischen Befehlen, zu wenden, widersetzt hatte und mich, verdammt noch mal, an dieser neuen Straßensperre vorbei zur Schnellstraße leiten. Als wir endlich vor dem Bahnhofsgebäude parkten, waren wir beide erschöpft, und der Regionalzug stand bereits auf dem Gleis. Ich erkannte Julia schon von weitem im Pulk der Ankommenden an dem leuchtend grünen Tuch, das sie sich um den Kopf geschlungen hatte, rannte auf sie zu, sah, wie sie winkte, schon fiel ich ihr um den Hals, gerührt, den Tränen nahe, wie ein Forscher, der in einem fremden Land die Ankommenden eines Schiffes aus der Heimat begrüßt. Sie erwiderte meine Umarmung. Um sich gleich darauf daraus zu lösen.
»Ich hoffe, es ist okay, dass Pragit mitgekommen ist.«
»Es ist … was? Wer?«
Einen Moment weigerte sich mein Gehirn, den Anblick des Karöttchens unter der Kategorie »bekannte Gesichter« einzuordnen. Das Karöttchen trug einen Rucksack mit eingerolltem Schlafsack und lächelte unter seinem Tim-Mälzer-Kinnbärtchen, das eher nach vergessener Rasur als nach einem ernst zu nehmenden Bart aussah. Neben seinem Ohr baumelte ein dünnes, geflochtenes Zöpfchen herunter, ansonsten waren seine Haare kurz, so kurz, dass die leicht abstehenden Ohren freilagen, dezent gepiercte, dünnwandige Ohren. Ich atmete ein, tief in mein Sonnengeflecht, wie ich es in einem lange zurückliegenden Yoga-Kurs gelernt hatte, und zählte langsam bis zehn.
»Chris hat nichts dagegen, dass er uns hilft, und er hört sowieso im Meatless Meeting auf. Stell dir vor, sie wollen dort jetzt Fischgerichte anbieten.«
»Nicht nur das, sie denken sogar über Hühnchen nach«, sagte das Karöttchen, und beide schüttelten sich in gemeinsamem Abscheu.
»Hühnchen, tatsächlich? Wie grauenhaft.« Ich wusste, dass Ironie an Julia verschwendet war, sie hatte neben ihrer Vorliebe für Thai-Hühnchen auch weite Teile ihres Humors verloren, seit sie mit dem Karöttchen zusammen war.
»Ja, schlimm«, sagte sie. Und lächelte. »Mensch, du siehst toll aus mit dieser Kappe. Siehst du, so hat der Haarschnitt doch noch sein Gutes.« Damit nahm sie die Hand ihres Liebsten, und gemeinsam schlenderten wir auf den Ausgang zu. Um die aufsteigenden Tränen der Wut und Enttäuschung zu verbergen, blickte ich nach unten, auf die bestrumpften Füße des Karöttchens in lederfreien Gesundheitsschlappen mit Korksohle. Ich fühlte mich wie der einzig übrig gebliebene Singlestrumpf nach einer großen Wäsche.
Die nächsten Tage waren anstrengend. In Köln hatte ich Julia und das Karöttchen nie so lange zusammen erleben müssen. Ich besuchte Julia möglichst nicht, wenn ich wusste, dass das Karöttchen bei ihr war, und hatte auf mindestens einem karöttchenfreien gemeinsamen Abend pro Woche bestanden. Die wenigen Wochenenden, die wir zu dritt verbracht hatten, gehörten nicht zu meinen schönsten Erinnerungen. Als wir das Aura-Sehen geübt hatten, war ich schon ziemlich weit in der Planung eines Mordes gewesen.
Das Karöttchen konnte, vermutlich dank seiner Ernährung, die Aura anderer Menschen sehen, und Julia hatte es unbedingt auch lernen wollen. Mit mir als Studienobjekt. Man solle, so die Regeln irgendwelcher Auraseher-Gurus, an einem Menschen üben, den man gut kannte. Also harrte ich ein Wochenende lang vor der weißen Wand in Julias Wohnung aus, während das Karöttchen ihr immer wieder erklärte, dass sie mich ansehen, aber gleichzeitig an mir vorbeischauen müsse, bis die Aura aufscheine. Kurz bevor ich alle erdenklichen bombensicheren Alibis des geplanten Karöttchen-Mordes in Gedanken durchgespielt hatte, war es passiert: Julia hatte mit zitternder Stimme verkündet, meine Aura sei Rot-Orange. Und das Karöttchen hatte genickt und wissend gelächelt.
Rot-Orange. Oha.
Zwar war ich überzeugt, dass jeder Augenarzt sofort erklären könnte, warum alles, was man stundenlang anstarrte, einen rot-orangen Schimmer bekam, trotzdem hatte ich später heimlich nachgelesen, was eine Aura war: eine Art sichtbarer Ausdruck des Astralleibs, der unseren Körper wie eine unsichtbare Hülle umgab. Und eine Aura in Rot-Orange wies darauf hin, dass ihr Besitzer
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