Eiertanz: Roman (German Edition)
zu einen Scheinangriff auf den Umschlag zu starten, als ob er ihn mir wieder entreißen wollte. Man brauchte keine sechs Semester Jurastudium, um zu erkennen, dass dieser Umschlag das enthielt, was wir suchten. Er war versiegelt. Christianes Name war darauf geschrieben, in einer fahrigen, altmodischen Handschrift, darunter ihre Adresse. Ich säuberte ihn von Staub und Sägemehlresten, hinderte Picco daran, sein eigenes Siegel darauf zu hinterlassen, und verließ das Zimmer.
Ich hatte von Julia und Lutz noch kein »Du bist soo gut« gehört, vermutlich waren sie nach der Arbeit erschöpft eingeschlafen, vielleicht von Sojahaxn und Kondomdirndln träumend. Träume, aus denen ich sie jetzt wecken musste. Mit der Realität eines Testaments, das unsere momentane Lage drastisch verändern würde. Julia und Lutz, schlaftrunken, mit verwuschelten Haaren, begriffen auf der Stelle: Wenn Christiane geerbt hatte, würden wir hier rasch alles regeln und zurück nach Köln fahren. Wenn sie nicht geerbt hatte, würden wir noch schneller aufbrechen. Was Julia und Lutz auf keinen Fall wollten. Nicht vor der Modenschau. Nicht vor der Haxe.
Zu meiner eigenen Verwunderung verstand ich sie vollkommen. Ich wollte auch nicht zurück nach Köln. Nicht jetzt, mit Quirins Kuss auf den Lippen, der Erinnerung an seine Fingerspitzen, schmetterlingszart, auf meinem Bein. Verdattert angesichts dieser Erkenntnis saß ich im dämmrigen Balkonzimmer, in dem Müllsäcke, Stoffe, die Kondome für das Dirndl und Kochbücher in wüstem Durcheinander lagen, und bevor ich es mir anders überlegen konnte, hatte ich Julia und notgedrungen auch Lutz von Quirins Kuss erzählt.
»Na endlich!« Julia setzte sich kerzengerade auf. »Wow, Süße, ich dachte, du wärst so blind vor Verknalltheit in Mirko, dass du nichts merkst. Er hat dich schon auf der Probe so angesehen … He, endlich mal ein Fortschritt! Wie war’s? Ich will alle Einzelheiten!«
»Es war phantastisch.« Mehr würde Julia von mir nicht erfahren, solange Lutz dabei war. »Aber er hat eine Freundin.«
»Und wennschon.« Julia strahlte. »Geh aufs Ganze, greif an!«
»Seh ich aus, als hätte ich’s so nötig?«
Julia und Lutz schauten mich an, dann auf irgendetwas hinter mir. Wortlos. Dann sahen sie einander an. Und nickten. Worauf ich gekränkt meine orangerote Wurzelchakra-Aura um mich raffte.
»Also, was machen wir jetzt mit dem Brief?«
»Wollen wir vielleicht … erst einmal nachschauen und dann entscheiden?«, fragte Julia zögernd.
»Er ist doch versiegelt. Christiane bringt uns um.«
»Und was passiert mit Picco?«
Auf diese Frage von Lutz schwiegen wir bedrückt. Julia war die Erste, die redete: »Wir könnten ihn einfach wieder verstecken. So, dass sie ihn garantiert nicht findet. Oder wir könnten ihn …« Sie griff nach dem Brief, aber ich war schneller.
»Ich hab ihn gefunden. Ich behalte ihn. So lange, bis wir … bis wir alle hier fertig sind, okay?«
Julia und Lutz nickten, einträchtig, in vollendeter Harmonie, und ich trug den Brief in mein Schlafzimmer, versteckte ihn in meiner Laptoptasche, zwischen Checklisten und Mirkos Autogrammkarten.
16.
D ie ganze Nacht hatten kleine Teufel an meinem Bett gesessen und auf mich eingeflüstert: Sie ist deine Chefin. Du machst dich strafbar, wenn du ihr den Brief nicht zeigst. Ist es überhaupt ein Testament? Vielleicht ist es nur eine Sammlung besonders geliebter Kochrezepte. Oder Piccos Familienstammbaum. Du wirst es nie wissen, wenn du den Brief nicht … Was ist beim Naggdschnorcheln passiert? Wer saß wohl gestern in diesem Boot? Vielleicht küsst Quirin jeden Tag eine andere Surferin. Georgina, mach dich nicht lächerlich!
Dieser letzte Teufel hatte die Stimme meiner Mutter und trieb mich aus dem Bett. Draußen bejubelten die Vögel den anbrechenden Tag, als wäre es der erste Morgen der Weltgeschichte. Vielleicht wurde nachts die Tatsache, dass es einen neuen Tag geben würde, aus ihren Vogelhirnen gelöscht? Vielleicht könnte ich mein Hirn dazu bringen, die Erinnerung, dass ich einen versiegelten Brief in meiner Laptoptasche versteckte, ebenso zu löschen?
Ich versuchte es mit Joggen, am Ufer entlang, ließ mich danach, angenehm erschöpft, auf dem Bootssteg nieder. Um mich herum summten und taumelten Insekten, vermutlich in der Chill-out-Phase nach der nächtlichen Blüten-Bestäubungsparty. Für einen Moment dachte ich tatsächlich weder an das Testament noch an irgendetwas anderes, hatte nichts zu tun,
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