Eifel-Müll
allein zur Schule und zur Arbeit gehen lassen, sie werde sie hinfahren. Wir haben zwei Töchter, längst erwachsen und selbstständig.« Fiedlers Augen waren ungewöhnlich hell, hellblau, unter dichten schwarzen Augenbrauen.
»Nun, es gab also keine Liebesgeschichte zwischen den beiden?«, fragte Emma. Dann lächelte sie entschuldigend: »Sie haben nur eine halbe Stunde Zeit.«
»Na ja, ein paar Minuten mehr oder weniger ... Tja, diese Liebesgeschichte ...«
»Einen Augenblick noch«, unterbrach ich ihn. »Waren Sie je bei Natalie oder bei Sven zu Hause?«
»Bei Sven ja, sogar öfter, weil sein Vater ein großer Sponsor der Schule ist. Bei Natalie nie. Aber das ist wohl schon Teil der Geschichte. Ich unterrichte in der Oberstufe Deutsch, Philosophie und Sozialwissenschaften. Ich mag die jungen Leute und habe einen guten Draht zu ihnen ... Sven und Natalie waren schon etwas Besonderes in ihrer Klasse. Sven wohl auch deshalb, weil sein Vater sehr wohlhabend ist und dem Jungen Dinge ermöglichte, über die ein junger Mensch normalerweise nicht so selbstverständlich verfügt – ein eigenes Auto, Reisen in ferne Länder, die Bekanntschaft mit anderen, reichen Familien, die Selbstverständlichkeit, schon mal im Fernen Osten oder in Rio gewesen zu sein. Das sind oberflächliche Dinge, wobei Sven alles andere als oberflächlich war. Er war sehr sensibel, sehr verletzlich und hatte zum Teil erstaunliche Ansichten, was soziale Dinge betraf. Ich habe nur wenige junge Männer gekannt, die ein dermaßen gutes Einfühlungsvermögen in andere Menschen besitzen ...«
»Sie mochten ihn sehr«, sagte Emma leise.
»Ja«, nickte der Lehrer und schloss einen Moment die Augen. »Und dann Natalie. Die war auch etwas Besonderes. Man kann sie am besten als schöne, selbstsichere Frau beschreiben. Das war sie von Beginn an. Sie war es schon, ehe ich die Klasse übernahm, sie war es schon als junges Mädchen von vierzehn. Dabei war sie weiß Gott nicht dumm, war temperamentvoll, manchmal vorlaut. Das, was an ihr erstaunte und manchmal sogar schockte, war ihr Realitätssinn. Ich erinnere mich an eine Klassenfahrt nach London. Meine Klasse war ein wirklich neugieriger Haufen, lebhaft und ungestüm. Wir waren in Diskos und Tanzpalästen und haben uns die Nächte um die Ohren geschlagen. Wir haben diskutiert, ob dieses wilde Leben der jungen Londoner etwas beitragen kann zu der Fähigkeit, das Leben allgemein zu meistern.« Er grinste. »Die Eifel ist ja etwas betulicher als London. Bei der Diskussion kamen wortreiche Meldungen, das Übliche. Aber Natalie sagte: ›Es geht nur ums Bumsen! ‹ Ich erwähne das, um ihre Art zu demonstrieren: sehr klar, unmissverständlich und wesentlich abgebrühter als der Rest der Gruppe.« Fiedler starrte auf meinen Teich.
»Kindfrau!«, sagte er dann. »Man könnte vermuten, dass Natalie von ihren Mitschülerinnen gemieden wurde. So viel Erfahrung, so viel Sicherheit. Aber sie war die Queen, gab ihnen Ratschläge für alle Lebenslagen. Das ging so weit, dass sie ihnen genau erklärte, wie weit sie beim Petting gehen durften und wann sie das erste Mal mit ihrem Auserwählten schlafen sollten.« Er lachte kurz auf. »Sie hat mich verblüfft, sie hat mich immer wieder verblüfft.«
»Und Sie mochten auch sie, nicht wahr?«, fragte Rodenstock.
»Unbedingt«, bestätigte er, »unbedingt.« Dann kicherte er. »Sie nicht zu mögen hätte zu viel Energie erfordert.«
»Warum waren Sie bei Svens Eltern zu Gast und nie bei Tina Colin?«, fragte ich.
Er spielte mit der Zunge an den Lippen, seine Finger trommelten auf dem Tisch. »Das hatte mit ihrer Mutter zu tun, aber wohl auch mit ihr selbst. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass ich die Eltern meiner Klasse kennen muss. Schließlich führe ich die Kinder durch das Abitur, ich hebe sie also über eine wichtige Lebensschwelle. Mich der Mutter von Tina zu nähern, war jenseits einer vorsichtig gezogenen Grenze nicht möglich. Die Mutter kam zu Klassenfesten, hielt sich aber sonst zurück. Ich muss hinzufügen, dass es eigentlich auch keinen Grund für einen intensiveren Kontakt gab. Die schulischen Leistungen von Natalie waren in Ordnung. Das war bei Sven übrigens genauso. Sie waren beide Führungspersönlichkeiten und daher war es natürlich, dass sie neugierig aufeinander waren.« Er schmunzelte in sich hinein. »Selbstverständlich habe auch ich das Gerücht gehört, dass Natalies Mutter eine Art, na ja, nennen wir es einmal offenes Haus oder einen Klub
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