Eifel-Schnee
worauf mein Großvater hohnlachend mindestens dreimal »Hah!« sagte und dann schmollte. Ich dachte, daß es gut war, solche Großeltern gehabt zu haben, ich dachte, daß ich allen Grund hätte, zufrieden zu sein. Aber dann schob sich Schappis Gesicht vor alle diese Bilder meiner Vergangenheit, und ich glaubte zu hören, wie er schluchzte und nach Ole und Betty seufzte.
Ich rief die Auslandsauskunft an und fragte nach Mijnheer Jörn van Straaten in s'Hertogenbosch. Sie gab mir die Nummer, und ich wählte sie sofort.
Er hatte eine volltönende, sehr energische Stimme.
»Meine Bitte ist ungewöhnlich«, begann ich. »Sie hatten hier Freunde in Jünkerath. Ich recherchiere den Fall Ole und Betty als Journalist und möchte Sie fragen, ob ich Sie besuchen darf?«
»Aber selbstverständlich«, sagte er in einwandfreiem Deutsch. »Tja, das wühlt in meiner Seele.«
»In meiner auch. Wäre Ihnen einer der nächsten Tage recht?«
»Natürlich. Rufen Sie mich vorher an. Kommen Sie in die Verweerstraat 78. Das ist im Zentrum. Trinken Sie Kaffee oder Tee?«
»Tee«, sagte ich.
»Ich freue mich«, behauptete er. »Ich denke nur, ich werde wenig hilfreich sein.«
»Das sehen wir dann«, tröstete ich ihn.
Ich hockte mich auf das Sofa, und sofort war Momo links und Paul rechts. Sie waren eifersüchtig aufeinander und knurrten sich über meinen Bauch hinweg an. Es ist ein gutes Gefühl, mit einer so intakten Familie zu leben.
Als das Telefon erneut schellte, war es zwanzig Minuten nach zehn, die Nacht war rabenschwarz, es schneite sehr heftig, der Wind kam aus Nordost, die Temperatur lag bei minus zehn Grad. Ich dachte, es sei Dinah oder Rodenstock mit der Mitteilung, sie kämen jetzt heim, aber es war eine männliche Stimme, gänzlich atemlos.
»Mein Mario stirbt, oh Gott, mein Mario stirbt.« Es war Marios Vater.
»Was ist passiert?«
»Das wissen wir nicht.« Er weinte jetzt. »Intensivstation im Maria-Hilf in Daun. Sie wissen nicht, ob sie ihn durchkriegen, und ich drehe hier langsam durch ...«
»Warum sind Sie nicht im Krankenhaus?«
»Die ... die ... sie haben mich gefeuert, weil ich ... weil ich ausgeflippt bin ...«
»Und Ihre Frau?«
»Sie ist hier bei mir, die haben mir eine Spritze gesetzt, ich denke, ich drehe ...«
»Ich fahre hin«, sagte ich hastig. »Sagen Sie denen im Krankenhaus, ich komme jetzt.«
Dicke, große Flocken fielen vom Himmel, und es war sehr kalt. Als ich die schmale Straße durch die Felder nach Walsdorf hinüberfuhr, rauschte ich kurz vor der alten, kleinen Brücke auf das Bankett, durchbrach einen Zaun und landete auf einer Wiese. Ich war so kopflos, daß ich einfach einen Bogen fuhr und erneut durch den Zaun brach, um wieder auf die Straße zu kommen. Aus irgendeinem Grund, wahrscheinlich weil ich auch wütend war, gelang das sogar. Wo die schmale Fahrbahn um einen weit vorspringenden Buchenwald kurvt, kam ich erneut ab, blieb diesmal gleich auf der Wiese und gab einfach Gas. Ich wurde erst wieder vernünftig, als ich die Schnellstraße von Kerpen nach Walsdorf erreichte, erst dann begann ich wieder normal zu atmen und nahm wahr, daß ich mit dem Auto unterwegs war.
Ich glaube, ich redete ganz laut mit mir selbst, ich glaube, ich sagte: »Kann sein, daß wir das verbockt haben. Kann sein, daß wir den Mario nicht hätten einspannen dürfen.« Aber dann wußte ich, daß Mario in jedem Fall selbst recherchiert hätte, ganz einfach, weil er Betty und Ole geliebt hatte, weil er selbst hatte wissen wollen, was da geschehen war.
»Lieber Gott, mach keinen Scheiß«, betete ich. »Das kannst du nicht machen.« Ich bin nicht sicher, daß der alte Mann mir zuhörte.
Der Nachtpförtner zeigte mir den Weg zur Intensivstation, und ich mußte eine Weile warten, ehe sich eine Krankenschwester um mich kümmerte.
»Ich komme wegen Mario«, erklärte ich zitternd. »Der Vater hat mich angerufen. Was ist mit dem Jungen?«
Eine furchtbare Sekunde lang dachte ich, sie würde sagen: »Er ist nicht mehr«, oder irgend etwas in dieser Richtung. Statt dessen antwortete sie: »Na ja, so doll ist der nicht dran.«
»Was haben Sie denn festgestellt?«
»Es ist noch ein bißchen früh«, entgegnete sie energisch. »Aber Sie können ihn sehen. Er ist bei Bewußtsein, aber er steht unter starken Medikamenten.« Sie ging vor mir her in einen hohen Raum, in dem nur ein Bett stand. »Aber nicht so lange«, mahnte sie.
Er lag auf dem Rücken und stierte an die Decke. Er war mit zahllosen Drähten an
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