Eifel-Sturm
gemauerten Fläche um einen der Kanalisationsdeckel war mit weißer Kreide der Umriss eines Körpers aufgemalt. »Warum, um Gottes willen, haben die das nicht schon längst wieder weggemacht?«
»Du weißt doch, wie das ist«, sagte Rodenstock behaglich. »Für das Aufräumen fühlt sich niemand zuständig.« Dann räusperte er sich. »Siehst du diese Grasfläche dort am rechten Ufer, wo der Einfluss des Mühlrades ist? Da lag die Geldbörse.« Er drehte sich herum und deutete flussaufwärts. »Und dreihundert Meter weiter oberhalb auf dem linken Uferstreifen haben wir die beiden Plastikkarten gefunden.«
»Ja, und?«
»Wir wollten überprüfen, ob es tatsächlich nicht möglich ist, an diesem Abschnitt der Rur in das Wasser zu gelangen beziehungsweise den Fluss wieder zu verlassen. Und beides ist praktisch nicht möglich.« Rodenstock seufzte.
»Habt ihr mal ausgerechnet, um wie viel Uhr er in Monschau sein konnte, wenn er um neunzehn Uhr von zu Hause wegfuhr?«
»Ja, klar, das haben wir. Er muss so um 19.40 Uhr hier gewesen sein. Also dort oben über der Stadt, wo er den Wagen geparkt hat. Wenn er es gemütlich angehen ließ, war er um 20 Uhr hier unten, vielleicht ein paar Minuten früher – aber das spielt keine Rolle. Und es war Sonntagabend und todsicher herrschte noch reger Betrieb, denn ein Teil der Touristen stammt aus der unmittelbaren Umgebung. Die Leute essen hier oft noch zu Abend. Dass niemand ihn gesehen haben will, können wir nicht fassen. Hast du eine Idee?« Emma sah mich an und lächelte.
»Nein. Er kann sich ja nicht in Luft aufgelöst haben. Vielleicht war er irgendwo privat zu Gast?«
»Unwahrscheinlich«, erklärte Rodenstock. »Wir haben eine ganze Polizeieinheit von Tür zu Tür geschickt. Mit Jakob Drieschs Foto. Niemand hat ihn gesehen, niemand.«
»Dann müsst ihr die Befragung wiederholen«, sagte ich. »Er ist um vier Uhr morgens erschossen worden. Was war um vier Uhr in der Nacht von Sonntag auf Montag hier los? Da muss doch jemand auf der Straße gewesen sein. Wer treibt sich denn normalerweise nachts auf Straßen rum?«
»Ein Priester«, sagte Emma nachdenklich. »Jemand, der einem Kranken helfen will. Ein Arzt. Der Priester ist kein Scherz. Er kommt, wenn jemand stirbt. Vielleicht sind Bäcker unterwegs, die fangen doch sehr früh an. Vielleicht schon Leute, die es sehr weit bis zum Arbeitsplatz haben, nach Aachen, Köln oder Düren, Belgien oder Euskirchen. Im Übrigen teile ich Rodenstocks Ansicht nicht so ganz. Sieh dich mal um. Die Straßenbrücke hat einen Stützbogen, rechter Hand, in dem das Wasser steht, weil wir Sommerwasser haben, also Niedrigwasser. Da ist ein Vorsprung, eine grasige Böschung, da ist ein Busch. Und dort hätte Driesch aus dem Fluss rausgekonnt.«
»Verdammt, Liebling, das ist aber sehr theoretisch«, widersprach Rodenstock. »Und Tatsache ist, er lief weiter im Fluss entlang, unter dieser Brücke durch, dann schoss jemand auf ihn und er kam noch dreißig Meter weit bis auf die gemauerte Fläche dort.«
»Du bist ein schrecklicher Rechthaber, und du hast Recht«, maulte sie.
»Ein anderes Problem«, wandte ich ein. »Gibt es eigentlich eine 44er-Winchester mit einem Schalldämpfer?«
»Vielleicht von einer Spezialfirma«, sagte Rodenstock, »nicht direkt vom Hersteller. Das haben wir geprüft. Du denkst an den Lärmpegel, nicht wahr?«
»Genau. Sechs Schüsse in dieser Häuserschlucht. Das muss einen höllischen Lärm gemacht haben. Da sind Leute aufgeweckt worden. Warum melden die sich nicht?«
»Gute Frage«, nickte Emma. »Ich vermute, sie melden sich nicht, weil sie nicht in diese hochpolitische Sache verwickelt werden wollen. Sie halten sich raus. Bei so Sachen hält sich jeder gern raus.«
»Von zehn Leuten sicherlich acht«, überlegte Rodenstock. »Aber wo sind die restlichen zwei? Warum sollte eine alte Dame, die sowieso nicht schlafen kann, Angst davor haben, sich in dieser Sache zu melden? Nein, nein, ich glaube nicht an die unbedingte Ängstlichkeit aller Zeugen. Entweder haben wir bisher etwas übersehen, oder aber da kommt noch etwas auf uns zu, von dem wir heute noch keine Ahnung haben.«
»Ich spendiere euch ein Eis«, schlug ich vor. »Vielleicht kommt uns dann eine rettende Idee.«
Wir marschierten ins Cafe Kaulard, stiegen die enge Stiege hinauf und fanden einen freien Tisch am Fenster. Eine rettende Idee kam uns allerdings nicht, im Gegenteil, unsere Hirne kamen uns wie vernagelt vor, und Rodenstock bemerkte
Weitere Kostenlose Bücher