Eifel-Träume
Michels, der warnend und mit Bestimmtheit sagte: »Hätten wir den Mofa-Mann verhaftet und angeklagt, wäre er verurteilt worden!« Immerhin sorgt die Kommission nun dafür, dass der Mann endlich in psychiatrische Hände kommt.
Neuneinhalb Jahre vergehen und der Fall Daniele ist immer noch wie ein Schmerz im Bewusstsein der Bürger des kleinen Dorfes. Da wird im benachbarten Trier ein Mann verhaftet, weil er sich in eindeutiger Weise Kindern genähert hat. Im Verhör sagt dieser Mann plötzlich, bei der Daniele sei das damals genauso gewesen. Die verhörende Kriminalbeamtin hört sämtliche Alarmglocken schrillen, sagt aber klugerweise erst mal nichts, sondern informiert die Mordkommission. Die übernimmt den Täter und geht ganz behutsam an das Thema Daniele heran. Und tatsächlich gelingt es ihnen, von dem Mann ein Geständnis zu bekommen.
Es gibt sehr viele Mordfälle in Deutschland, die aus einer scheinbaren Zufälligkeit heraus gelöst werden. Aber die Zahl der Fälle, die niemals gelöst werden, ist erschreckend viel höher. Der Albtraum der Kripo in Trier, es könnte ein durchreisender Täter gewesen sein, erfüllte sich nicht. Aber der wahre Täter stand auf keiner Liste, in keinem denkbaren Szenario, war einfach aufgetaucht, hatte gemordet und war verschwunden.
Was wird aus dem Fall Annegret, wenn nicht das richtige Szenario gefunden wird? Auch eine endlose, erschöpfende jahrelange Warteschleife?
Irgendwann musste ich eingeschlafen sein, denn ich hörte nicht mehr, wie Clarissa zum Dachboden hochstieg. Um vier Uhr war ich wieder wach. Ich hatte etwas Wirres und Erschreckendes geträumt, konnte mich aber nicht an Einzelheiten erinnern. Ich las, hatte Mühe, mich zu konzentrieren, und stand um sechs Uhr auf.
Während die Kaffeemaschine lief, schaltete ich das Morgenmagazin ein, hörte nebenbei von vielen Toten im Irak, von gezielten Tötungen im Gazastreifen und politischen Streitigkeiten wegen der Atomanlagen im Iran.
Das Wetter schien gutmütig, die Fische zogen aufgeregte Bahnen, weil sie wussten, es würde Fressen regnen. Am Teich hatten sich Iris ausgesät, die leuchtend blau durch die hohen Gräser schimmerten. Der Wasserschachtelhalm war beträchtlich gewachsen, die vielen Vergissmeinnicht bildeten sanft blaue Tupfer in Überfülle. Der Wind hatte einen Busch Wilden Reis umgelegt und über einer weißen Rose segelte ein Zitronenfalter. Cisco trottete zu mir, schien schläfrig, und Satchmo sang seine Trauerarie – oder er hatte tatsächlich Hunger. Die Pfingstrose hatte beschlossen, erst einmal erstaunliche anderthalb Meter hochzuschießen, um dann Blütenknospen in Unmengen auszubilden. Es war wie immer in meiner Eifel – alles passierte fünf Wochen später, aber dann gründlich. Die Feuerlilien hatten in den Knospen eine orangefarbene Andeutung, zwei waren schon aufgegangen und strahlten wie Sieger. Im Steingarten stand der Giersch hoch und stark, es machte immer weniger Sinn, gegen ihn anzukämpfen. Zuweilen kommt es einem vor, dass er neue Triebe nachwachsen lässt, wenn du dich nur fünf Minuten umdrehst. Giersch siegt immer.
Die Koikarpfen sahen mit ihren silbern-schwarz-rot gefärbten Körpern aus wie Eifel-Papageien und sie benahmen sich auch so – eindeutig arrogant. Die aufdringlich leuchtenden ordinären Goldfische konnten gegen sie nicht anstinken und zuweilen erweckte Peter den Eindruck, als bereite es ihm Freude, diese widerlichen, neureich gewordenen Sardinen mit aller Gewalt zu rammen: Proleten unter sich. Meine Kröte, die ich in der Überfülle der Gewächse seit Wochen nicht mehr leibhaftig gesehen hatte, quakte irgendwo. Tage vorher waren Unmengen von Kaulquappen an flachen, warmen Stellen des Wassers aufgetreten, jetzt war keine mehr zu entdecken. Wahrscheinlich ging es meinen Fischen deshalb so gut, weil eine Quappe zum Frühstück eine Delikatesse ist.
Ich gab Satchmo und Cisco etwas zu fressen und machte mir selbst ein Brot. Hunger hatte ich keinen, aber wir Menschen scheinen unter der Vorstellung zu leiden, dass Frühstück sein muss.
Gegen neun Uhr begann ich zu arbeiten, das heißt, ich schlich mich an die Wahrsagerin Gertrud Olschowski heran.
»Ich heiße Siggi Baumeister und bin Journalist. Ich würde Sie gern besuchen und eine Stunde Ihrer Zeit erbitten.«
»Siebzig Euro«, antwortete sie hart.
»Einverstanden. Kann ich sofort kommen?«
»Selbstverständlich.«
Gantesdorf ist ein kleiner Weiler mit nicht mehr als hundert Einwohnern, von denen die meisten
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