Ein abenteuerliches Herz
Studierzimmer, in jeder Bücherstube ein wenig Sanduhrstimmung, ein wenig vom Geiste der Melancholia und des heiligen Hieronymus. Es ist da immer Trauer, aber auch immer Behaglichkeit, weil immer Besinnung ist. Jeder wird Stunden kennen, die er dort schweigend oder im Gespräch verbrachte und in denen die Zeit, wenn nicht stille zu stehen, so doch gemächlicher zu fließen schien. Vielleicht regnete es draußen, oder es brannte ein Feuer im Kamin.
Ich entsinne mich vieler solcher Orte, und wenn ich der Versuchung widerstehe, sie zu nennen, so nur deshalb, weil ich kein Ende absehe. Im Leben junger Menschen gibt es Jahre, in denen sie von einer dieser Zellen, Klausen, geistigen Warten zur anderen wechseln wie zwischen Stützpunkten, deren jeder von einem mehr oder weniger sonderbaren Insassen besiedelt ist. Immer noch gibt es große und kleine Städte oder selbst Dörfer, in denen an solchen Gehäusen kein Mangel ist. Ob man im Süden aus dem Garten die Zikaden schnarren hört, ob man im Norden auf verschneite Giebel blickt, ob man ein Mietzimmer oder eine Wohnung im väterlichen Hause aufsucht: überall herrscht hieronymitischer Geist. Man wird der Armut und selbst der bitteren Not weit öfter als der Opulenz begegnen, und doch haben fast alle Reichen und Mächtigen der Erde Jahre, und meist ihre schönsten Jahre, in solchen Denkhütten verbracht, in denen Arbeit und Muße zwielichtig ineinander übergehen.
Schwer ist es, diese Stimmung in spätere Stände des Lebens zu übernehmen, vor allem, wenn der Erfolg sich andeutet. Doch ist es nicht unmöglich, da sie weder an ein Lebensalter noch an Armut oder Reichtum gebunden ist. Hieronymus wird von dem Künstler in hohem Alter dargestellt. Auch führte er eine nicht nur mächtige, sondern fürstliche Existenz, wie der Löwe ausweist, der ihm zu Füßen liegt. Das eigentümliche Behagen schafft also nicht ein Unterschied von Bildung oder Alter; wirksam ist vielmehr ein Unterschied der Zeit. Mit ihm wird sich die Schrift beschäftigen.
Das Selbstverständliche ist meist das letzte, was unsere Gedanken aufscheuchen. Es gleicht dem Hasen, der wohlgetarnt vor unseren Füßen liegt. Dafür erstaunt es um so mehr. Ich hatte bemerkt, daß die Sanduhr eine höchst behagliche Stimmung erweckt. Dem mußte vorausgegangen sein, daß ich sie überhaupt bei meiner Arbeit duldete. Erst in dem Zusammenhang fiel mir auf, daß ich noch nie eine Uhr, weder im Schlaf- noch im Arbeitszimmer, gemocht hatte. Das galt wenigstens für die Räume, die man als Interieur bezeichnet und über die man nicht immer, am wenigsten als Soldat in den Kriegen, verfügt. Die gleiche Abneigung bezog und bezieht sich auch auf Telephone und Radios, deren Uhrencharakter uns noch beschäftigen wird. Sie ging aber nicht so weit wie die meines Bruders, der, wie ich glaube, nie eine Uhr besessen hat. Das ist ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann.
Im übrigen ist die Scheu vor Uhren im Innenraume nichts Besonderes. Ich glaube eher, daß sie weit verbreitet ist, ja daß sie vielleicht jeder empfindet in den Bereichen, in denen er kindlich oder musisch, mit einem Worte: in der Wildnis geblieben ist. Die Uhr gehört nicht in den Wald. Sie gehört auch nicht in die Welt der Liebenden und der Spiele, nicht zur Musik. Sie mißt nicht die Stunden, die der Geist in seiner Muße oder beim schöpferischen Werk verbringt. »Dem Glücklichen schlägt keine Uhr.«
Die Abneigung ist tief, indem sie einen Bann, ein Tabu berührt, während ihre Symptome einleuchtend sind. Man hat das Gefühl, daß man beim Ticken nicht arbeiten, nicht einschlafen kann. Man hat die Vorstellung, daß der Gedanke in den Takt der Unruhe gezwungen wird. Man will nicht angerufen, nicht geweckt werden. Im Grunde handelt es sich um einen Anspruch der Freiheit in Zonen, in denen man noch nicht gezähmt worden ist.
Dabei fällt mir die Anekdote ein, die über den Maler Degas berichtet wird. Es war zur Zeit der ersten Telephone in Paris. Degas war bei einem Gönner, der sich einen Anschluß hatte legen lassen, zu Tisch. Der Hausherr hatte sich, um die Erfindung ins rechte Licht zu setzen, auf diese Zeit einen Anruf bestellt. Als er von dem Gespräch zurückkam, sah er seinen Gast erwartungsvoll an. »Das ist also das Telephon«, sagte Degas: »man klingelt, und Sie gehen hin.«
Die Sanduhr gehört nicht zu diesen Sklaven, die durch ihre Ansprüche zur Last fallen. Sie ist ein bescheidener Diener aus der alten Zeit. Auch sie ist freilich bereits ein
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