Ein abenteuerliches Herz
Stamm zersplittert durch frühere Hinrichtungen. Man sieht zwei Serien von Einschlägen – eine höhere der Kopf- und eine tiefere der Herzschüsse. Im Kernholz rasten, von den feinen Fasern des aufgeplatzten Bastes eingesponnen, einige dunkle Schmeißfliegen. Sie instrumentieren das Gefühl, mit dem ich den Platz betreten habe: so sauber kann keine Richtstätte gehalten werden, als daß nicht etwas vom Schindanger einspielte.
Zu diesem Waldstück fuhren wir heut hinaus. Im Wagen noch der Stabsarzt und ein Oberleutnant, der das Kommando führt. Während der Fahrt Gespräche, die sich, »als ob man drinnen säße«, durch eine gewisse Nähe und Vertraulichkeit auszeichnen.
Wir treffen das Kommando bereits in der Lichtung an. Es bildet vor der Esche eine Art von Korridor. Die Sonne scheint, nachdem es unterwegs geregnet hat; die Wassertropfen blitzen im grünen Gras. Wir warten noch eine Weile, bis kurz vor fünf, dann fährt ein Personenwagen den schmalen Waldweg entlang. Wir sehen den Verurteilten aussteigen, mit ihm zwei Gefängniswärter und den Geistlichen. Dahinter kommt noch ein Lastwagen; er fährt das Beerdigungskommando und den Sarg, der nach Vorschrift bestellt wurde: »von üblicher Größe und billigster Ausführung«.
Der Mann wird in den Korridor geleitet; dabei ergreift mich ein Gefühl der Beklemmung, als ob plötzlich das Atmen schwerfiele. Man stellt ihn vor den Kriegsrichter, der neben mir steht: ich sehe, daß ihm die Arme durch Handschellen auf dem Rücken gehalten sind. Er trägt eine graue Hose aus gutem Stoff, ein graues Seidenhemd und einen offenen Militärrock, den man ihm über die Schultern geworfen hat. Er hält sich aufrecht, ist gut gewachsen, und sein Gesicht trägt angenehme Züge, wie sie die Frauen anziehen.
Das Urteil wird verlesen. Der Verurteilte folgt dem Vorgang mit höchster, angespannter Aufmerksamkeit, und dennoch habe ich den Eindruck, daß ihm der Text entgeht. Die Augen sind weit geöffnet, starr, saugend, groß, als ob der Körper an ihnen hinge; der volle Mund bewegt sich, als buchstabierte er. Sein Blick fällt auf mich und verweilt für eine Sekunde mit durchdringender, forschender Spannung auf meinem Gesicht. Ich sehe, daß die Erregung ihm etwas Krauses, Blühendes, ja Kindliches verleiht.
Eine winzige Fliege spielt um seine linke Wange und setzt sich einige Male dicht neben seinem Ohre fest; er zieht die Schultern hoch und schüttelt den Kopf. Die Verlesung dauert eine knappe Minute, dennoch erscheint die Zeit mir außerordentlich lang. Das Pendel wird schwer und gedehnt. Dann führen die beiden Wächter den Verurteilten an die Esche; der Pfarrer begleitet ihn. In diesem Augenblick vermehrt sich noch das Schwere; es hat etwas Umwerfendes, als ob starke Gewichte sich auslösten. Ich entsinne mich, daß ich ihn fragen muß, ob er eine Augenbinde verlangt. Der Geistliche bejaht das für ihn, während die Wächter ihn mit zwei weißen Stricken anbinden. Der Pfarrer stellt ihm noch einige leise Fragen; ich höre, daß er sie mit »Jawohl« beantwortet. Dann küßt er ein kleines silbernes Kreuz, das ihm vorgehalten wird, während der Arzt ihm ein Stück roten Kartons von der Größe einer Spielkarte über dem Herzen an das Hemd heftet.
Inzwischen sind die Schützen auf ein Zeichen des Oberleutnants eingeschwenkt und stehen hinter dem Pfarrer, der den Verurteilten noch deckt. Nun tritt er zurück, nachdem er mit der Hand noch einmal an ihm heruntergestrichen hat. Es folgen die Kommandos, und mit ihnen tauche ich wieder zum Bewußtsein auf. Ich möchte fortblicken, zwinge mich aber, hinzusehen, und erfasse den Augenblick, in dem mit der Salve fünf kleine dunkle Löcher im Karton erscheinen, als schlügen Tautropfen darauf. Der Getroffene steht noch am Baum; in seinen Zügen drückt sich eine ungeheure Überraschung aus. Ich sehe den Mund sich öffnen und schließen, als wollte er Vokale formulieren und mit großer Mühe noch etwas aussprechen. Der Umstand hat etwas Verwirrendes, und wieder wird die Zeit sehr lang. Auch scheint es, daß der Mann jetzt sehr gefährlich wird. Endlich geben die Knie nach. Die Stricke werden gelöst, und nun erst überzieht die Totenblässe das Gesicht, jäh, als ob ein Eimer voll Kalkwasser sich darüber ausgösse. Der Arzt tritt flüchtig hinzu und meldet: »Der Mann ist tot.« Der eine der beiden Wächter löst die Handschellen und wischt ihr blitzendes Metall mit einem Lappen vom Blute rein. Man bettet den Leichnam in den Sarg; es
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