Ein abenteuerliches Herz
Kräfte ein anderes Bild. Selbst einem Auge, das sie durch die schärfsten Fernrohre betrachten würde, könnte der große Unterschied nicht entgehen. Zwar ändern sich die Dinge nicht für den, der über ihnen steht, aber sie kehren eine andere Seite hervor. So schmilzt in diesem entfernten Bilde die Verschiedenheit der Zeiten ineinander ein. Es ist nicht mehr zu sehen, daß die Kirchen und Burgen tausendjährig und daß die Warenhäuser und Fabriken von gestern sind; dafür tritt etwas hervor, was man ihr Muster nennen könnte – die gemeinsame kristallische Struktur, in der sich der Grundstoff niedergeschlagen hat. Auch von der unermeßlichen Mannigfaltigkeit der Zwecke und der Bewegungen, die sie hervorrufen, nimmt das Auge nichts mehr wahr. Dort unten sind zwei Menschen, die aneinander vorübereilen, zwei Welten für sich, und ein Stadtviertel kann vom anderen entfernter als der Nordpol vom Südpol sein. Aber von dir aus, der du bereits ein kosmisches Wesen und doch noch ein Teil der Erde bist, wird das alles in seiner Ruhe wahrgenommen, gleichsam als die Absonderung, die sich aus den vulkanischen Gärungen und den flüchtigen Säften dieses Lebens gebildet hat. O immer wieder wunderbares Schauspiel, wie aus der Verschiedenheit, aus der Feindschaft der Zeiten und Räume Bildung um Bildung erwächst! Dies ist es, was ich die tiefere Brüderlichkeit des Lebens nenne, in die jede Feindschaft einbezogen ist.
Uns hier unten aber ist es selten vergönnt, den Zweck dem Sinne eingeschmolzen zu sehen. Und doch gilt unser höchstes Bestreben jenem stereoskopischen Blick, der die Dinge in ihrer geheimeren, ruhenderen Körperlichkeit erfaßt. Das Notwendige ist eine besondere Dimension. Wir leben in ihr, und doch vermögen wir nur, und nur im bedeutenden Sein, ihre Projektionen zu schauen. Es gibt Zeichen, Gleichnisse und Schlüssel mancher Art – wir gleichen dem Blinden, der zwar nicht zu sehen vermag, doch der das Licht an seiner dumpferen Eigenschaft der Wärme verspürt.
Ist es nun nicht auch so, daß jede Bewegung des Blinden für ein sehendes Auge sich im Lichte vollzieht, obgleich ihn selbst ewige Dunkelheit umhüllt? So sahen wir niemals unser Gesicht in Spiegeln zeitloserer Art. So aber auch sprechen wir eine Sprache von einer Bedeutung, die uns selbst nicht einsichtig ist – eine Sprache, von der jede Silbe zugleich vergänglich und unvergänglich ist. Symbole sind Zeichen, daß uns, dennoch, das Bewußtsein unseres Wertes gegeben ist. Sie sind einmal Projektionen von Gestalten aus einer verborgenen Dimension, dann aber auch Scheinwerfer, durch die wir unsere Signale ins Unbekannte schleudern in einer Sprache, die den Göttern wohlgefällig ist Und diese rätselhaften Unterhaltungen, diese Kette wunderbarer Anstrengungen, aus denen der Kern unserer Geschichte besteht, die eine Geschichte der Schlachten der Menschen und Götter ist – – –: sie sind das einzige, was den Menschen des Studiums würdig macht.
7
Der wahre Vergleich, das heißt: die Betrachtung der Dinge nach ihrer Lage im notwendigen Raum, ist das wunderbarste Mittel der Schützenkunst. Seine Basis ist der gemeinsame Ausdruck des Wesentlichen und seine Spitze das Wesentliche selbst.
Das ist eine Art der höheren Trigonometrie, die sich mit dem Messen unsichtbarer Fixsterne befaßt.
8
Ich stieg an diesem leuchtenden Vormittag in den Schluchten des Monte Gallo empor. Die rotbraune Erde der Gärten war noch feucht vom Tau, und unter den Zitronenbäumen standen die roten und gelben Blüten des Sarazenenfrühlings gleich einem Muster, wie es der Morgenländer in seine Teppiche webt. Dort, wo die letzten Blätter der Opuntie nackt und neugierig über die rötlichen Mauern spähten, schlossen sich die Bergtriften an, überragt von Felsen und von den gelben Stauden der Wolfsmilch überflammt. Dann führte der Weg durch ein schmal eingeschnittenes Tal aus kahlem Gestein.
Ich weiß nicht und will auch nicht versuchen, es zu beschreiben, wie mir inmitten dieser Mauern plötzlich die Einsicht auftauchte, daß ein Tal wie dieses mit seiner steinernen Sprache den Wanderer eindringlicher ergreift, als es einer reinen Landschaft möglich wäre, oder daß, anders gesprochen, eine solche Landschaft über tiefere Kräfte verfügt. Nun hat es wohl nie ein Bewußtsein von Rang gegeben, dem das nicht deutlich gewesen wäre, und doch sind Augenblicke selten, in denen man über die Erkenntnis eines beseelten Lebens, das in der Natur waltet, hinaus einem
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