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Ein Alptraum für Dollar

Ein Alptraum für Dollar

Titel: Ein Alptraum für Dollar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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Sein Vater — ein bedauernswerter Säufer — bringt mit Lumpensammeln an guten Tagen etwa 600 Lire nach Hause, also umgerechnet ungefähr 3,- DM, vergleicht man die Entwicklung des Preisindex beider Länder in den letzten vierzig Jahren. Mit diesen 600 Lire also soll die Mutter die ganze Familie ernähren, Strom und Wasser bezahlen, auch den Arzt, der aber nur dann gerufen wird, wenn es schon zu spät ist.
    Als Domenico geboren ist, kann sie ihn nur einen Monat lang stillen. Und das ist für die Familie Marzano eine Katastrophe, denn nun muß Pulvermilch gekauft werden, und das zehrt empfindlich an den 600 Lire. Was tun? Die Lage ist nicht nur ernst, sie ist hoffnungslos. Neben ihnen jedoch haust eine Familie Noviello. Denen geht es... nun ja, sehr gut! Sie haben einen Zaun um ihre Hütte. Sie besitzen sogar eine Ziege und ein paar Hühner. Und selbst die Sonne scheint in diese Hütte! Ja, die Noviellos sind wirklich zu beneiden. Doch nur auf den ersten Blick. Ihr Unglück ist: Sie können keine Kinder bekommen — was in Italien, und ganz besonders bei den armen Familien, wirklich eine Tragödie genannt werden muß.
    Ab jetzt kann man die Geschichte so oder so beurteilen: Man kann sie abscheulich, unmoralisch finden — denn im Grunde ist sie das schon —, man kann sie aber auch ganz einfach logisch finden. Logisch, weil sie in einem Milieu spielt, in dem das Elend seine eigene absurde Logik entwickelt.
    Als Domenico sechs Monate alt ist, taucht ein Vermittler auf, der die Marzanos und die Noviellos zusammenbringt. Für eine bescheidene Provision überredet er die beiden Familien zu einem ungewöhnlichen Geschäftsabschluß: Graziella verkauft ihr Baby. Übrigens mit bestem Gewissen. Denn bei den Nachbarn wird es Domenico ganz bestimmt viel besser haben als bei ihr. Natürlich hätte sie — anstatt ihr Kind zu verkaufen — es der Nachbarin einfach so in Pflege geben können, ohne Geld dafür zu verlangen, aber das, das ist unsere Moral — mit den Tabus unserer Gesellschaft! Das ist die Moral der vollen Bäuche.
    In den Slums — übrigens überall auf der Welt — bedeutet ein Kind ein gewisses Kapital, noch dazu, wenn es ein Junge ist, der spätestens mit zehn Jahren tüchtig Geld nach Hause bringen kann — auf welche Weise auch immer!
    Deshalb wurde Domenico verkauft: für einen Gesamtpreis von 120 000 Lire — damals... etwa 800 DM!
    So weit, so gut. Man kann dafür Verständnis haben oder nicht. Doch was jetzt kommt, übersteigt jegliche Vorstellungskraft: Domenico wird auf Raten gekauft — wie ein neuer Fernsehapparat. Denn auch wenn die Noviellos eine Ziege und sechs Hühner besitzen — Geld ist bei ihnen genauso rar, wie bei den Marzanos. Es geht ihnen nur deshalb besser, weil sie bis jetzt kein Kind hatten. Signore Noviello bringt es immerhin auf 1000 Lire pro Tag — 6,70 DM genau! Das reicht, Domenico zu ernähren — aber er kann unmöglich den ganzen Kaufpreis jetzt auf einmal zahlen. Die beiden Familien einigen sich jedoch. Sie betrachten dieses Geschäft wirklich als eine ganz übliche Transaktion. Und die beiden Väter reden miteinander so, wie wir es heute vielleicht mit dem Autohändler tun würden, bei der Anschaffung eines Wagens mit Leasing. Da die Noviellos über keinerlei Bargeld verfügen, bitten sie den Verkäufer, den Kaufpreis auf Raten bezahlen zu dürfen. 1000 Lire pro Monat — und dies genau zehn Jahre lang. Also insgesamt 120 000 Lire. Dann ist Domenico abbezahlt — und auch alt genug, um selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen.
    Der Kaufvertrag ist aber noch nicht perfekt. Signore Marzano findet noch einen Punkt, der geregelt werden muß. Für uns heute... eine haarsträubende Forderung: Die Eltern von Domenico verlangen darüber hinaus beim Verkauf noch 6000 Lire. Als Entschädigung für die Ernährung des Babys ab der Geburt bis zum sechsten Monat — also bis zum Übergabetermin der Ware.
    Ja, sechs Monate á 1000 Lire, rückwirkend sozusagen! Da wird aber hart gehandelt. Schließlich hat das Baby während der ersten vier Wochen ja nichts gekostet, da die Mutter es so lange hatte stillen können! Na schön, man einigt sich also auf 5000 Lire, allerdings in zwei Sonderraten zahlbar: eine bei der »Lieferung«, die zweite beim ersten Geburtstag Domenicos.
    Erst jetzt sind alle zufrieden, und das sechs Monate alte Baby wechselt von der einen zur anderen Hütte. Und die neuen »Kinderbesitzer« zahlen nun ganz pünktlich jeden Monat die 1000 Lire, die 6,70 DM!
    Acht

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