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Ein Alptraum für Dollar

Ein Alptraum für Dollar

Titel: Ein Alptraum für Dollar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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will in Kanada anrufen:
    »Mutter sagt a little Deutsch. Sie verstehen? We telefon now mit my Mutter, o. k.? Where gibt Telefon?«
    Als sie in das kleine Stuttgarter Restaurant mit Telefon kommen, ist es neun Uhr abends. In Regina, der Hauptstadt von Saskatchewan, ist es drei Uhr nachmittags. Mrs. Colter hört die Stimme ihres Sohnes klar und deutlich über den Atlantik:
    »Hallo, Mum, ich bin’s, Burt! Ich bin hier in Stuttgart mit Frau Ebernach und Ingrid. Aber wir haben Schwierigkeiten, uns zu verständigen. Ich glaube, sie traut mir nicht ganz. Kannst du nicht mit ihr sprechen? Ich geb sie dir mal. Leg dich ins Zeug, Mum! ich schaff’s alleine nicht!« Und Burt gibt Frau Ebernach den Telefonhörer:
    »Das ist Mutter. Speak to her. She listens to you... She versteht good deutsch.«
    Die beiden Frauen reden lang miteinander. Am Anfang bleibt Frau Ebernach ziemlich reserviert, ja sogar kühl. Aber dann wird sie gesprächiger und ihre Stimme wärmer. Das Gespräch dauert so lange, daß Burt und Ingrid sich an einen Tisch setzen und ein kaltes Abendbrot bestellen.
    Nach einer Stunde kommt Frau Ebernach endlich zu ihnen. Sie lächelt Burt an.
    »Is alles o.k., Mrs. Ebernach?«
    Sie antwortet nicht. Sie nickt nur ganz langsam mit dem Kopf. Von oben nach unten.
    »Wonderful!« schreit Burt erleichtert.
    Er steht auf, schließt Mutter und Tochter in seine Arme und drückt sie an seine breite Brust.
    Dann richtet er die Augen nach oben zur Zimmerdecke und fragt leise:
    »Ist nun alles gut, Daddy?«
     

Das Kind auf Raten
     
    Wie ein gehetztes Tier, das eben gefangen wurde, sitzt Domenico mit seinem zerzausten Struwwelhaar und seinen vor Angst rollenden pechschwarzen Augen neben dem Heizkörper auf dem blanken Kachelboden des Polizeireviers.
    Domenico ist noch nicht einmal zehn Jahre alt — ein Kind aus Neapel, das gerade beim Stehlen ertappt wurde.
    Eine ganz alltägliche Szene — jedenfalls in einer Stadt wie Neapel. Die süditalienische Hafenstadt hat sich 1958 noch lange nicht vom Krieg erholt — dort ist kein Wirtschaftswunder in Sicht —, und alle armen kleinen Jungen stehlen. Die Carabinieri sind völlig abgestumpft und stellen gleichgültig die üblichen Fragen:
    »Wie heißt du?«
    »Wie alt bist du?«
    »Wo wohnst du?«
    Sie sind daran gewöhnt, keine Antwort darauf zu bekommen, aber sie walten ihres Amtes und fragen gelangweilt weiter:
    »Warum hast du denn das gestohlen?«
    »Das« — das sind die Zierleisten eines amerikanischen Straßenkreuzers, die Domenico gerade abmontierte, als die Hand der Polizei auf seine Schulter fiel! Solche Zierleisten bedeuten bares Geld in den Armenvierteln von Neapel. Der Carabiniere wartet nicht einmal auf eine Antwort, so sind sie alle, diese armen Bengel — flink wie der Blitz beim Stehlen — und stumm wie die Fische vor der Polizei. Also beginnt er die entsprechende Rubrik auszufüllen, da fängt Domenico doch auf einmal an, seine Geschichte zu erzählen:
    »Ja... die Zierleisten wollte ich stehlen... das tue ich schon seit drei Monaten. Ich muß es tun. Nur noch ein Jahr lang, dann... dann... tue ich so was bestimmt nie wieder... Dann bin ich ganz abbezahlt!«
    Die Carabinieri im Raum — sonst nicht so leicht aus der Fassung zu bringen — schauen zu dem am Boden zusammengekrümmten kleinen Jungen hinunter und trauen ihren Ohren nicht! Alle kleinen Jungen lügen — hier im Polizeirevier —, sie erfinden die tollsten, abenteuerlichsten Dinge. Aber das, was Domenico nun erzählt, ist so unglaublich, daß sie den Atem anhalten und ihm bestürzt zuhören.
    Um die Geschichte überhaupt zu begreifen, ja nachzuempfinden, ist es notwendig sich das Milieu, in dem sie spielt, genau zu vergegenwärtigen. Sonst kann man das Ganze heute einfach nicht glauben.
     
    Es begann also in Neapel vor etwa vierzig Jahren. In den äußersten Randbezirken der Stadt, dort wo die Ärmsten der Armen in Wellblechsiedlungen hausen. Auf ein paar Hektar leben Tausende von kinderreichen Familien — zusammengepfercht in Holz- und Blechhütten. Wovon leben sie? Von allem und von nichts: von der mageren Sozialhilfe, von den kleinen Gelegenheitsarbeiten und meistens nur von der weltberühmt gewordenen »neapolitanischen Gerissenheit«!
    Man muß sich diese Welt mit ihren eigenen Gesetzen und ihrer eigenen Moral vorstellen können, wenn man verstehen will, was Domenico im Alter von sechs Monaten passiert ist.
    Seine Mutter, Graziella Marzano, hat schon drei Kinder, als Domenico zur Welt kommt.

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