Ein altes Haus am Hudson River
vergangenen drei Jahren war viel geschehen. Vance hatte gelesen und studiert, neue Wissenswege hatten sich ihm eröffnet und Zusammenhangloses miteinander verbunden, und Miss Lorburns Bibliothek war jetzt weniger für sich genommen aufregend als deshalb, weil die traurige Frau dort gelebt hatte. Traurig, aber nicht verdorrt. Er blickte zu ihr hinauf, und sie blickte mit großen Augen herab, den Augen eines Menschen, der verzichtet hat, aber nicht verzweifelt ist … Was wäre das für ein Stoff! Er ließ sich in den Lehnstuhl fallen, auf dem er an jenem ersten Tag gesessen hatte.«Das ist die Vergangenheit – wenn ich nur hineintauchen könnte …»Elinor musste schön gewesen sein, als sie jung war, von einer herben, strengen Schönheit wie Halo; die langen, schmalen Hände voller Geschenke für irgendwen oder ausgestreckt und leer, um etwas in Empfang zu nehmen. Offenbar hatte ihr niemand etwas schenken oder von ihr geschenkt haben wollen, dennoch war sie nicht verwelkt, sondern gereift. Ihre Bücher und eine innere Lebensquelle hatten sie warm gehalten – wie wohl? Und plötzlich kam ihm ein seltsamer Gedanke: der Gedanke, dass Halo Tarrant es wusste. Hatte ihn eine Ähnlichkeit in den Gesichtszügen oder im Ausdruck auf diese Idee gebracht, etwas an Augen oder Händen? Halo hatte dieselben Hände, länglich, wie ihr Gesicht, und sie streckte sie einem weit geöffnet hin, bereit, zu empfangen oder zu schenken, während ihre Augen fragten, was von beidem es sein sollte. Doch Halo war verheiratet, hatte wahrscheinlich ihren Platz im Leben gefunden. Und vielleicht hatte das auch die andere Frau getan, auf ihre Weise. Das erklärte die Ähnlichkeit – oder machte sie nur umso rätselhafter … Die Nachmittagsschatten wanderten unmerklich über den Rasen. Vance saß regungslos da und ließ den verborgenen Kräften in seinem Innern freien Lauf. Sobald er sich seiner schöpferischen Leidenschaft überlassen konnte, führte ihn das immer an jenen geheimnisvollen Punkt, wo alle Anstrengung aufhörte und er nur noch den Atem anhalten und zuschauen musste.
Er schaute zu …
Als er heimkam, fragte Laura Lou, warum er so lange fort gewesen sei, ihre Mutter mache sich Sorgen, er möge bitte sofort nach oben gehen und ihr sagen, dass alles in Ordnung sei. Er starrte sie traumverloren an, als hätte sie in einer unbekannten Sprache gesprochen.«Ah, ja, in Ordnung … Es ist alles in Ordnung. »An diesem Abend blieb er lange auf und schrieb und schrieb …
Mrs Tracys Genesung zog sich hin, und sie gewöhnte sich an, Vance die wöchentliche Inspektion von The Willows anzuvertrauen. Die neue Eigentümerin, die alte Miss Louisa Lorburn, kam nie und stellte keine Fragen, und die Familie Spear befand sich seit Halos Hochzeit entweder in New York oder war in Eaglewood mit Wochenendpartys viel zu beschäftigt, um The Willows zu überwachen. Manchmal begleitete ihn Laura Lou, zusammen mit der Frau, die den Tracys bei der Wäsche half. Dann ließen sie Vance in der Bibliothek zurück, und Laura Lou rief laut nach ihm, wenn sie mit Putzen fertig waren. An anderen Tagen ging er ganz allein hin, und es dauerte nicht lang, da lagen die Schlüssel in seiner Tasche statt unter Mrs Tracys Nadelkissen …
Während dieser endlosen Sommerstunden in der Bibliothek spürte er zum ersten Mal eine Art Gleichgewicht zwischen der Flut seiner Wörter und Bilder und dem Stoff, den sie gestalten sollten. Anfangs schrieb er nicht regelmäßig, er tastete sich nur vor. Viel Zeit verbrachte er in einem Zustand fruchtbarer Passivität, aber die innere Arbeit hörte nie auf. An den Tagen, da er in der Redaktion Bericht erstatten musste, bewegte er sich wie ein Schlafwandler. New York war zu einem Schatten geworden, einer Fata Morgana, und das gärende Tun und Treiben seiner Kollegen im«Cocoanut Tree»erschien ihm so sinnlos wie das Tanzen einem Menschen, der die Musik nicht hören kann. Durch eine feine Verschiebung existierte die einzige für ihn gültige Wirklichkeit jetzt in jenem stillen Raum zwischen den Büchern. Zu Rauch sagte er, er habe mit einem Roman angefangen, und bei seinem nächsten Besuch merkte er peinlich berührt, wie neugierig und ungeduldig die Redakteure waren, doch noch konnte er ihnen nichts zeigen, was ihre Neugier gestillt hätte.« Ich nenne das Buch wahrscheinlich ‹Anstatt›», sagte er nur, woraufhin Rauch feststellte:«Na, besonders glanzvoll klingt das ja nicht …»Vance atmete erleichtert auf, als er am Monatsende
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