Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
Vom Netzwerk:
um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist. Dann…», er hob den Kopf und erwiderte ihren Blick,«dann haben mich die Bücher zurückgelockt. Ich konnte nicht anders. Und ich habe mir angewöhnt, öfter zu kommen.»
    « Aha. Sehr oft?»
    « Fast jeden Tag. Aber zu Hause wissen sie nichts davon», fügte er hastig hinzu.
    « Das weiß ich auch», sagte sie und antwortete auf seinen fragenden Blick:«Dort war ich gerade. Ich habe gehört, dass Mrs Tracy krank ist, und wollte mich erkundigen, ob ich etwas für sie tun kann.»Mit einem spöttischen Glitzern in den Augen fuhr sie fort:«Laura Lou glaubt anscheinend, Sie wären in New York.»
    Vance stieg das Blut ins Gesicht, brennend bis zu den Schläfen.« Ich … sie war auch krank … ich weiß, dass sie sich nur Sorgen machen würde, wenn sie wüsste, dass ich so oft hierherkomme … so wie jetzt …»
    Halo Tarrant sah ihn blass und ernst wie ein junger Richter an; er spürte, dass sein Schicksal auf Messers Schneide stand.« Auch sie wird mich nun dafür verachten», dachte er in jäh aufschießender Angst, die alle anderen Befürchtungen auslöschte. Sie erwiderte nichts, sagte aber nach einer Weile:«Ich habe Laura Lou seit einem Jahr nicht gesehen. Wie schön sie geworden ist!»
    Vor Überraschung brachte Vance nur ein undeutliches Gemurmel heraus. In seinem Wortschatz gab es keine Entgegnung auf derartige Liebenswürdigkeiten, schon gar nicht auf unerwartete, und er stand verlegen und tölpelhaft da. Endlich stammelte er:«Sie finden wahrscheinlich, dass ich überhaupt nicht hier sein sollte.»
    « Also gut, ich werde Sie nicht verraten», erwiderte sie, immer noch ernst. Eine Zeit lang sprach keiner von beiden, dann trat sie an den Tisch, legte ihre schmale Hand darauf (ja, dachte er, ihre Hand glich tatsächlich den Händen auf dem Bild) und beugte sich über sein Manuskript.«Arbeiten Sie hier?»
    « Ja. Zu Hause ist nur im Esszimmer Platz. Und da kommt immer jemand rein und stört mich.»
    Mrs Tarrant nahm den Hut ab und setzte sich in den geschnitzten Lehnstuhl. Ihr strenger Blick war milder geworden. Vance lehnte mit verschränkten Armen in der Fensternische. Von dort aus gesehen befand sich ihr Kopf mit den ondulierten Haaren und den schmalen Wangen genau unter dem des Porträts, und obwohl die Augen anders waren, spürte er wieder die feine Ähnlichkeit zwischen den beiden Frauen.«Sie sehen aus wie sie!», rief er.
    Sie blickte auf, die kurzsichtigen Augen zusammengekniffen.« Wie die arme Cousine Elinor? Sie beide sind wohl dicke Freunde geworden?»
    « Ja.»Er legte seine Hand auf das Blatt neben ihr.«Das hier handelt von ihr.»
    « Von Elinor?»
    Er nickte begeistert.«Ich beschreibe ihr Leben – ich versuche es.»
    Seine Besucherin blickte ihn erstaunt an.«Das Leben von Elinor Lorburn?»
    « Ich meine, so, wie ich es mir vorstelle. Wie es zu jener Zeit zuging, als dieses Haus gebaut wurde. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll – aber ich finde das einen großartigen Stoff für einen Roman … ganz anders als das Zeug, womit sich andere Schriftsteller abmühen. Ich finde es interessanter, mich in die Köpfe der Menschen zu versetzen, die in diesen Häusern gelebt haben – ich versuche zu erkennen, wo wir herkommen. Sonst werde ich nie verstehen, warum wir so sind, wie wir sind …»Er schwieg kurz, außer Atem von dem Versuch, sein Anliegen zu formulieren.«Aber ich glaube, es funktioniert nicht», begann er wieder.«Ich weiß nicht genug über diese alten Zeiten. Trotzdem gibt es wahrscheinlich ein paar gute Stellen in dem, was ich geschrieben habe … Der Anfang ist auf jeden Fall gut. Wissen Sie was, ich würde es Ihnen gern vorlesen», brach es aus ihm heraus,«darf ich?»
    Zaudern und Skrupel waren von ihm abgefallen. Er vergaß, dass man ihn angetroffen hatte, wo er nicht hätte sein dürfen, vergaß die wahrscheinlichen Konsequenzen und Halo Tarrants möglichen Unmut, ja er war sich kaum ihrer Gegenwart bewusst, sondern sah in ihr nur eine Zuhörerin für das, wofür er so dringend Zuhörer brauchte. Sie nickte und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, und er sammelte die Blätter auf und begann.
    Sein Vortrag war bestimmt nicht viel besser als damals, als er ihr am Thundertop seine Gedichte vorgelesen hatte. Aber daran dachte er erst, als er schon angefangen hatte, und nach dem ersten Absatz wurde er fortgerissen von der ungewohnten Empfindung, dass seine Traumbilder in einem anderen Kopf merklich Gestalt annahmen. So etwas war ihm

Weitere Kostenlose Bücher