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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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nie zuvor widerfahren, und noch ehe er eine Seite gelesen hatte, erbebte er unter dem Eindruck ihrer feinfühligen Teilnahme. Was seine Phantasie hervorgebracht hatte, entfaltete sich und reifte in der ihren. Wie auch immer ihr Urteil am Ende lauten mochte – es war, als hätte er sich selbst beurteilt.
    Er wurde innerlich ruhig, und nun gesellte sich zu seiner intellektuellen Begeisterung noch die Freude über ihre Anwesenheit. Alles an ihr schien zu lauschen und zu verstehen, von den aufmerksam gesenkten Lidern über den konzentriert geschlossenen Mund bis zu den ruhig gefalteten Händen auf den Knien. Als er geendet hatte, wandte er sich jäh ab, als könnte sie sonst sein Herz im Halse klopfen sehen. Er warf das Manuskript auf den Tisch, und sein Selbstvertrauen fiel in sich zusammen.
    Mrs Tarrant sagte nichts. Sie löste nur ihre Hände und legte sie wieder übereinander, sonst regte sie sich nicht. Vance erschien ihr Schweigen unergründlich. Er drehte sich zu ihr um und schrie sie fast an:«Völlig unbrauchbar, oder?»
    Sie blickte auf.«Es ist bei Weitem das Beste, was Sie je geschrieben haben.»In ihrer Stimme schwang eine Fülle unterdrückter Gefühle mit.«Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sonderbar das ist – all diese langweiligen, altbekannten Dinge, die auf einmal wieder Bedeutung gewinnen …»
    « Oh, hab ich das geschafft? Sie sehen es – Sie können es wirklich sehen?»
    « Natürlich, ich sehe es mit Ihren Augen und auch mit meinen. Das ist das Sonderbare – und das Schöne daran. O Vance, wie haben Sie das gemacht? Ich freue mich so!»Sie stand auf und kam näher. Es war, als strahlte ihn seine eigene Leistung an.« Sie müssen weiterschreiben – Sie müssen alles andere aufgeben, um das zu Ende zu führen.»Er nickte sprachlos, und sie stand da und blickte sich in dem dämmrigen Zimmer um.«Und natürlich müssen Sie hier arbeiten. Sie haben dieses Haus zu dem ihren gemacht. Sie müssen ruhig und ungestört arbeiten können. Ich werde das für Sie regeln.»Sie setzte sich wieder und beugte sich über den Tisch zu ihm.«Aber das ist erst ein Anfang; sagen Sie mir, wie es weitergehen soll.»

29
    Halo Tarrants in letzter Minute getroffene Entscheidung, nicht mit ihrem Mann zu verreisen, verdankte sich einem unbedeutenden Ehezwist – so hätten das die meisten Menschen wohl genannt, doch manchmal fragte sie sich, wie man jeweils im Voraus erkennen sollte, was sich in der Welt der Gefühle als nebensächlich und was als schicksalhaft herausstellen würde.
    Sie hatte sich voller Ungeduld auf die Reise gefreut – oder hatte geglaubt, sich zu freuen –, auf die interessanten Menschen, denen sie begegnen würden, auf die aufregende Aussicht, wenigstens eine kleine Rolle in der literarischen Welt von London und Paris zu spielen, und auf all die Reize, die eine Abwechslung jungen und unzufriedenen Menschen bietet. Dann war plötzlich ein Glied in der Kette gerissen, die sie an Tarrant band, und sie standen Meilen voneinander entfernt, einer für den anderen kaum sichtbar.
    Seltsam, dass das Leben solchen Zufällen auf Gnade und Ungnade ausgeliefert war! Aber in diesem Fall hatten die Umstände schon seit einiger Zeit das Selbstvertrauen ihres Mannes untergraben, das auch in guten Zeiten nicht besonders stabil war. Die«Neue Stunde»hatte nicht in dem Maße Fuß gefasst, wie sie gehofft hatten. Die Zahl der Abonnenten nahm nicht zu. Das sei nur natürlich, hieß es; das erste Jahr einer neuen Zeitschrift sei immer kritisch. Beunruhigender war die Tatsache, dass Buchhandlungen und Zeitungskioske keine größeren Bestellungen aufgaben. Bei den letzten Nummern war der Verkauf sogar zurückgegangen, und das für den Rest des Jahres geplante Programm war kaum brillant genug, um die Nachfrage zu beleben. Es war nichts Ungewöhnliches an dieser Situation, aber gerade das empfand Tarrant als erniedrigend. Halo hatte mittlerweile begriffen, dass im Lebensplan ihres Mannes ein halber Erfolg fast schlimmer war als ein Fehlschlag. Er hatte sich der sterbenskranken Zeitschrift angenommen und ihr neues Leben eingehaucht, und wenn sie unter seinen Händen wieder dahinsiechen sollte, wenn dem Versagen eines anderen sein eigenes Versagen folgen würde, wäre das für ihn viel demütigender (und vor seiner Eitelkeit schwerer zu verantworten), als wenn er selbst ein neues Unternehmen gegründet und damit keinen Erfolg gehabt hätte.
    In diesem kritischen Augenblick kam Frenside auf die glückliche Idee, Tarrant

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