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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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Vorstadt hätte bieten können, etwas, was ihr gehörte, worauf sie stolz sein und worum sie viel Wind machen könnte, hätte das vielleicht alles geändert … Als er in den getäfelten Lift stieg und ins oberste Geschoss schwebte, empfand er eine nagende Wut auf die Ungerechtigkeit des Lebens und die Grausamkeit der sozialen Verhältnisse. Er vergaß, dass er angerufen hatte, weil er durch den Gedanken an Mrs Tarrant seinem Elend entfliehen konnte, und dass er dem drängenden Bedürfnis nachgegeben hatte, mit ihr über sein neues Buch zu reden und noch einmal in die heilenden Quellen ihrer Zuneigung zu tauchen. Jetzt, auf ihrer Schwelle, empfand er nur das blinde Verlangen, sie zu bestrafen – zu bestrafen, weil sie so taktlos bei seiner Frau eingedrungen war, weil sie lebte, wie sie lebte, weil sie war, was sie war, weil sie ihn und Laura Lou nicht in Ruhe das Leben führen ließ, zu dem sie verdammt waren, mit oder ohne ihre Einmischung.
    Die Tür öffnete sich auf das gedämpft beleuchtete Entree. Ein Mädchen nahm ihm Hut und Mantel ab, sagte«Hier entlang», und dort saß sie, vor dem Kamin in der Bibliothek, allein. Sie trug etwas aus dunkler Spitze, das ihre Oberarme durchschimmern ließ, und der nüchterne, von Büchern gesäumte Raum mit den matt leuchtenden Lampen und ein paar lilienartigen, karmesinroten Blumen in einer großen Vase schien ein Teil von ihr zu sein, der unverzichtbare Hintergrund für ihre unnahbare, verschwiegene Anmut. Vance dachte an das Zimmer, in dem er Laura Lou zurückgelassen hatte, und gleichzeitig stieg ein Bild in ihm auf, wie diese Frau sich unbekümmert scherzend von ihm abwandte, in jenem anderen Zimmer in The Willows, wo er ihr sein Herz zu Füßen gelegt hatte … Nein, es gab keinen gemeinsamen Boden, auf dem er und Halo Tarrant sich hätten treffen können; die Lebensumstände trennten sie zu scharf. Materielles Wohlergehen, Schutz vor Kummer und Schulden machten die Menschen hartherzig und gefühllos, vielleicht ohne dass sie etwas dafür konnten. Er hatte schon recht gehabt, als er sie nicht mehr sehen wollte, und es war falsch gewesen, dem Impuls nachzugeben, der ihn heute Abend hierhergeführt hatte.
    « Vance – wie ich mich freue!», sagte sie, erhob sich und streckte ihm wie ehedem freundlich beide Hände entgegen.
    Er stand an der Tür, an Händen und Füßen gefesselt mit den Schlingen der Verlegenheit und des Unmuts.«Sie haben heute meine Frau besucht», begann er und brach gleich wieder ab, weil er nicht wusste, wie er fortfahren sollte.
    Mrs Tarrant hob leicht die Brauen.«Ja. Es war so lange her, seit ich etwas von Ihnen beiden gehört hatte. Als Sie damals zum Lunch hier waren, sah sie ein wenig kränklich aus, und ich wollte fragen, ob ich etwas tun kann …»
    « Nein. Sie können nichts tun.»Er fühlte die Verwunderung und den Schmerz in ihren Augen, wagte aber nicht, ihrem Blick zu begegnen.
    « Das tut mir leid», erwiderte sie schlicht.«Aber ich freue mich, dass Sie heute Abend gekommen sind. Setzen Sie sich doch, Vance. Ich bin ganz allein – Lewis ist bei einer Herrengesellschaft, und ich wollte mir einen ruhigen Abend mit meinen Büchern machen.»
    Vance war in dem großen Raum auf halber Strecke zwischen Tür und Kamin stehen geblieben.«Dann will ich Sie nicht länger stören», sagte er, noch immer um Worte verlegen.
    « Mich stören? Wie können Sie so etwas sagen? Sie wissen doch, dass ich seit Langem mit Ihnen reden möchte.»
    « Nein, das wusste ich nicht. Ich meine …»Er brach plötzlich ab.«Es ging meiner Frau nicht gut, als Sie kamen. Sie hätten nicht nach oben in ihr Zimmer gehen sollen, ohne dass man Sie darum gebeten hatte», brach es aus ihm heraus.
    « Vance!»
    « Merken Sie nicht, wie den Menschen zumute ist», fuhr er leidenschaftlich fort,«wenn jemand wie Sie, aus einer solchen Umgebung» – er machte eine vorwurfsvolle, den ganzen Raum umfassende Geste –«in die Häuser kommt, in denen wir wohnen müssen, und so zu tun versucht, als gäbe es irgendeine Gemeinsamkeit in unserem und Ihrem Leben?»
    Mrs Tarrant hatte eine Hand auf die Stuhllehne gelegt und starrte ihn bestürzt an.«Vance – ich verstehe nicht. Hat Laura Lou Anstoß genommen an meinem Besuch?»
    « Sie empfindet genau wie ich. Wir wissen, dass Sie es gut meinen. Aber es hat keinen Sinn. Wir gehören nicht zu ihresgleichen – werden nie dazugehören. Und für mich kompliziert es die Dinge nur, wenn Sie …»Er unterbrach sich, denn ihm wurde

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