Ein altes Haus am Hudson River
schreiben Sie am Ende noch fünfzig Seiten über einen Riss in der Zimmerdecke. Dann kriecht zwar das ganze ‹Cocoanut Tree› vor Ihnen im Staub, aber Ihre Einnahmen gehen schlagartig zurück.»Nein, Blemer wusste offenbar nicht, wie oder warum er seine Romane schrieb, und konnte sich die Probleme, die Vance’ ganze Leidenschaft und Verzweiflung waren, nicht einmal vorstellen. Ihn würden die Schritte des Schicksals nie am Schlafen hindern … Und dennoch hatte er ein gutes Buch geschrieben.
Vance mochte von den Gesprächen mit den literarischen Größen enttäuscht sein, doch die Atmosphäre bei den Tarrants empfand er als anregend – die schmeichelhafte Aufmerksamkeit dieser beneidenswerten Menschen, die unbefangen und vertraut von so vielem sprachen, worüber er brennend gern Bescheid gewusst hätte, für die es selbstverständlich war, dass man das letzte Stück am Jiddischen Theater gesehen, die neueste Strawinsky-Symphonie gehört und die Galerie mit den tschechoslowakischen Malern besucht hatte, und die eifrig über die bevorstehende Ausstellung der«Gruppe Übermorgen»diskutierten, in der, wie alle wussten, Vance’ Büste von Rebecca Stram zu sehen sein würde.
Die Luft war elektrisch aufgeladen, wenn nicht mit Gedanken, so doch zumindest mit Schlagworten und Anspielungen, die zu Gedanken führten. Für Vance war der durch Bildung und Reisen gewachsene Hintergrund, angedeutet durch rasch zugeworfene Namen, Anekdoten, Hinweise auf nie gesehene Orte, unbekannte Menschen, Kunstwerke, Bücher und Theaterstücke, mit seinen vielfältigen Anregungen berauschend. Doch vielleicht noch berauschender fand er das durch nichts behinderte Leben der Menschen, die so leicht ihre Wissbegier stillen konnten – Menschen, die die stattliche Anzahl von Büchern in der Tarrant’schen Bibliothek, die tiefen Sessel, die geschickt verteilten Lampen und Blumen als selbstverständlich empfanden und auch die Musik, die eine träumerische Hand gegen Ende des Abends dem Steinway-Flügel in seiner schummrigen Ecke entlockte. Wie bei jeder seiner kurzen Berührungen mit dieser Welt war es Vance, als durchfluteten ihn tausend Ströme von Schönheit und Lebenskraft. Wenn das Leben einer Großstadt so plastische, malerische Eigenschaften besaß, warum sollte er sie nicht aufgreifen? Warum sollte er seine Beliebtheit bei diesen Menschen, die seiner Phantasie auf so vielfältige Weise Nahrung geben konnten, nicht ausnutzen? Noch bevor sich die Gesellschaft auflöste, hatte er ein Dutzend Einladungen angenommen, zum Dinner, zum Anhören moderner Musik oder zum Anschauen alter Bilder. Was war das für eine Welt, in die er eintauchen und die er dann beschreiben würde!
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« Storecraft»hatte sich im obersten Stockwerk eines Eckgebäudes in der Fifth Avenue etabliert, mit einem Dachgarten (dem letzten architektonischen Schrei), Ausstellungsräumen und einem Nachtclub. Diese neue Phase in der Entwicklung des Unternehmens sollte mit der Ausstellung der«Gruppe Übermorgen »feierlich eingeleitet werden, und als Vance und Laura Lou im voll besetzten Lift zum Dachgarten hochsausten, füllten sich die Räume bereits mit den Leuten, deren einziges Interesse an Ausstellungen die Vernissage ist.
Laura Lou hatte im letzten Augenblick beschlossen, ihren Mann zu begleiten. Es war ein strahlender Tag, trügerisch warm für März, und sie hatte einen kleinen blauen Hut aufgesetzt, vom gleichen Blau wie der, den sie an jenem schicksalhaften Tag bei der Stadtrundfahrt getragen hatte, dazu einen Mantel mit einem flauschigen bernsteinfarbenen Pelzkragen. Zwischen der himmelblauen Hutkrempe und dem gelblichen Pelz sah ihr Gesicht so zart aus wie eine wilde Rose, und die müden Schatten unter den Augen ließen sie wie Saphire erglühen. Vance blickte sie verwundert an. Wo versteckte sie diesen Liebreiz nur im täglichen Leben? Er tauchte offenbar plötzlich auf, zu besonderen Anlässen, als zöge sie ihn zusammen mit dem«guten»Mantel aus dem Koffer unter dem Bett hervor, dann verschwand er genauso schnell wieder und ließ Laura Lou als blassen, schlafäugigen Schatten ihrer selbst zurück. Anscheinend bedurfte es eines inneren Anreizes, der ihrem Leben jetzt fast immer fehlte, um diese zerbrechliche Schönheit wachzukitzeln. Vance merkte, dass die Leute sich nach ihr umsahen, als sie die Galerie betrat, so wie damals auf der Hochzeitsreise in dem eleganten Restaurant und im Theater. Männlicher Stolz erfasste ihn, und er ließ seinen Arm
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