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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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meiner Frau, sie wird Sie vorstellen.»
    Am anderen Ende der Bibliothek sprach Halo mit einem kleinen, grobschlächtigen jungen Mann, der das Haar kurz geschnitten trug wie ein deutscher Burschenschafter. Sie stellte ihn Vance als Gratz Blemer vor. Blemer war derb, aber umgänglich.« Wir können uns gegenseitig sicher nicht lesen – jedenfalls werden Sie sich nie durch einen Sumpf wie mein letztes Buch quälen –, aber ich freue mich über die Gelegenheit zu einem Gespräch. Schreiben hat immer etwas Manieriertes, Reden ist das einzig Wahre, finden Sie nicht?»Er sprach mit leicht deutschem Akzent, aufgeweicht durch jüdische Kehllaute, und obwohl Vance sich von seiner Gutmütigkeit und Schlichtheit angezogen fühlte, fragte er sich zum hundertsten Mal, warum amerikanische Romane so selten von Amerikanern geschrieben wurden. Er wäre gern mit Blemer in eine Ecke gegangen und hätte ihm einige Fragen zu seiner Literaturauffassung gestellt, aber es kamen noch andere Leute. Da war der kleine O’Fallery; seine Kurzgeschichte«Jammerlappen»war mit dem Pulsifer-Preis ausgezeichnet worden, den Tarrant eigentlich für Vance erwartet hatte; da war Frenside, barsch, aber wohlwollend, Rebecca Stram (deren in Ton modellierte Büste von Vance demnächst auf der Ausstellung der«Gruppe Übermorgen», organisiert von dem wagemutigen Unternehmen«Storecraft», gezeigt würde) und andere, Männer und Frauen, die Vance nicht oder nur dem Namen nach kannte, aber alle schlugen denselben Ton an, bewunderndes Interesse und kluges Verständnis …
    Verständnis? Im ersten Augenblick schien es so, doch während die Stunden vergingen und ein Gast nach dem anderen Gelegenheit erhielt, sich den neuen Romancier zu schnappen und ein Gespräch über Literatur mit ihm zu führen, bei dem er selbst der strahlende Mittelpunkt war, spürte Vance wieder und wieder, wie sehr wahlloses Lob isolieren und entmutigen kann. Alles, was sein Werk wertvoll machte, das eigentlich Überzeugende an seiner Begabung, war anscheinend unsichtbar und für andere unverständlich. Ihn verlangte danach, mehr über dieses geheimnisvolle Können zu erfahren, über das Werkzeug, das ihm ein Gott im Vorübergehen gleichgültig in den Schoß geworfen hatte und dessen Handhabung zu ergründen nun ihm überlassen blieb; doch die klugen Bewunderer, mit denen er sich zu gern über seine Fragen ausgetauscht hätte, schienen unfähig, ihm zu folgen.«Oh, Sie sind zu bescheiden», versicherte ihm ein freundlicher Kritiker, und ein anderer sagte:«Wenn Sie eine Geschichte beginnen, wissen Sie wahrscheinlich selbst nicht immer, wie sie endet …»Nicht wissen, wie sie endet! Hatten diese Menschen denn noch nie die Schritte des Schicksals vernommen, die für Vance bei jedem großen Roman schon auf der ersten Seite zu hören waren, so zwingend wie das Klopfen an Macbeths Tor, so unerforschlich wie die Eröffnungstakte der Fünften Sinfonie 90 ? Sogar Gratz Blemer, den er am späteren Abend mit Beschlag belegen konnte und dessen Buch so herrlich mühelos und gleichzeitig kraftvoll wirkte, Gratz Blemer, gutmütig und offenbar gesprächsbereit, drehte eine Zigarre zwischen den dicken Lippen, starrte zur Decke, senkte den Blick und sagte:«Das Romanschreiben? Na ja, ich weiß nicht. Man hat eine Geschichte, die man erzählen will, und statt einem Freund die Ohren vollzulabern, was das Natürlichste wäre, schließt man sich ein, hämmert sie in eine Remington und schickt sie an einen Verleger, sodass noch mehr Menschen sie hören können. Das ist vermutlich der einzige Unterschied – das und die Einnahmen», fügte er mit wohlgenährtem Kichern hinzu.
    « Ja, aber …», japste Vance entmutigt.
    « Was denn?»
    « Ich meine, wie keimt denn das Ganze, wie breitet es sich über und unter der Oberfläche aus? Es hat etwas so Baumartiges, so Vorgezeichnetes! Neulich bin ich bei Blake auf eine Stelle gestoßen, die mich daran erinnert hat: ‹Der Mensch wird geboren als fertig bepflanzter und besäter Garten. Diese Welt ist zu armselig, um auch nur ein einziges Samenkorn hervorzubringen.› 91 Das ist nur eine Anspielung auf dieses Geheimnis … aber ich werde nicht recht klug daraus – Sie etwa?»
    Blemer lachte gemütlich.«Hab’s nie versucht», sagte er und griff mit einer feisten, behaarten Hand nach einem vorbeischwebenden Cocktail. Kurz darauf fuhr er gutmütig fort:«Hören Sie, junger Mann. Fangen Sie ja nicht an, die Propheten zu lesen und Ihre Arbeit zu analysieren, sonst

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