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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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besitzergreifend durch den ihren gleiten.«Bring mich gleich dahin, wo das Ding steht», sagte sie ein wenig gebieterisch, als habe sie sein Gefühl erspürt.
    Sie bahnten sich einen Weg in den zweiten Raum, und dort erhaschte Vance, hoch oben auf einem zentral aufgestellten Sockel, einen Blick auf sich selbst, in Ton modelliert von Rebecca Stram. Die auffällige Platzierung der Büste verwunderte ihn – er hätte nicht gedacht, dass Rebecca als Künstlerin ein solches Ansehen genoss, nicht einmal innerhalb ihrer eigenen kleinen Gruppe.
    « Na, so was! Für eine Anfängerin haben sie ihr aber einen guten Platz gegeben», sagte er zu seiner Frau.
    « O Vanny, das ist nicht wegen ihr – das ist wegen dir!»
    Er lachte ein bisschen schüchtern, aufrichtig erstaunt. Er hatte nicht bedacht, dass für alle außer ihm und Laura Lou seine Gesichtszüge von Interesse sein könnten.
    « Quatsch», knurrte er verlegen.
    « Aber schau doch! Wir kommen ja gar nicht hin – ich kann nicht mal was sehen», jubelte sie.
    Die Büste war in der Tat dicht von Besuchern umringt; einige betrachteten sie, aber die Mehrzahl folgte hingerissen dem lauten Wortschwall eines auffallend gekleideten Mannes, der Vance und Laura Lou seinen breiten Rücken zukehrte.
    « Ob ich ihn kenne? Ob ich Vance Weston kenne?», hörten sie Bunty Hayes wie durch ein Megaphon tönen.«Ja, das kann man wohl sagen. Schon als kleinen Jungen. Wir sind zusammen aufgewachsen, oben am Hudson, wie es in dem alten Lied heißt. – Im Westen geboren?»(Dies offenbar als Antwort auf den Einwurf eines Zuhörers.)«Stimmt – Illinois war das, glaub ich, vielleicht auch Arizona. Aber er ist schon als junger Bursche in den Osten gekommen und hat bei Verwandten seiner Mutter gelebt – ich weiß es noch wie heute, wie das war bei seiner Ankunft! Tja, ich hab ihn abgeholt, wie er aus dem Zug gestiegen ist. Schon damals hat man gleich das kleine Genie erkannt. ‹Bunty›, hat er zu mir gesagt, ‹wo ist die Bücherei?› (Als Allererstes!) ‹Ich möchte etwas in der Encyclopædia Britannica nachschlagen›, sagte er. War nicht älter wie sechzehn und hat schon damals bloß ans Schreiben gedacht! Na ja, also ich selber war damals bei der Zeitung und hab ihn gleich in die Redaktion mitgeschleppt und gesagt: ‹Du musst keine Enzyklopädien studieren, sondern das Leben!› Und ich sag mal, das war der Wendepunkt in seiner Karriere, ich behaupte, mein Ratschlag, meine Hilfe haben ihn dorthin gebracht, wo er heute ist: an die Spitze aller Romanschriftsteller und auf den Ehrenplatz von ‹Storecrafts› erster Kunstausstellung. Ob ich da stolz drauf bin? Na klar, wohl zu Recht …»
    Er drehte sich plötzlich um, musterte die Menge mit dem geübten Auge eines Mannes, der Zuschauerzahlen abzuschätzen verstand, und begegnete Vance’ Blick. Vance erwartete Anzeichen von Unbehagen im dicklichen Gesicht des Redners, aber da kannte er Bunty Hayes schlecht. Die Augen des versierten Schaustellers leuchteten auf, und er bahnte sich mit ausgestreckter Hand einen Weg zu Vance.
    « So, meine Damen und Herren, und nun wird es Zeit, dass ich meine Zelte abbreche und mich zurückziehe. Hier ist der große Mann persönlich. Bitte, Mr Weston, treten Sie vor und geben Sie Ihren Bewunderern die Gelegenheit, die leibhaftigen Gesichtszüge mit der Inspiration der Künstlerin zu vergleichen!»
    Vance war wie gelähmt vor Zorn, doch blieb ihm keine Zeit, ihn zu äußern, denn Freunde und Bekannte drängten sich heran, und Bunty Hayes wurde beiseitegeschoben. Vance sah sich plötzlich als Mittelpunkt einer Menschenmenge; jeder wollte unbedingt ein Wort zu ihm sagen und dafür ein Wort von ihm hören, und ihn verlangte nur danach, das alles – sie alle – loszuwerden und seiner Wut auf Hayes Luft zu machen. Es gelang ihm, den ersten Herandrängenden den Namen seiner Frau zuzumurmeln, aber kurz darauf glitt ihre Hand von seinem Arm, und er sah, wie sie von einer hochgewachsenen, in Zobel gehüllten Gestalt fortgezogen wurde, die er von hinten als Mrs Pulsifer erkannte. Mrs Pulsifer und Laura Lou – er wollte, er hätte Zeit gehabt, sich auch darüber aufzuregen! Aber vielleicht war es besser, darüber zu lachen – sogar über Bunty Hayes, dessen schauspielerischer Instinkt so selbstsicher über jede anzügliche Peinlichkeit triumphierte.«Wenn ich ihn jetzt beim Kragen packen und ihm die Abreibung verpassen würde, die er verdient», dachte Vance,«würde er auch das noch als Werbung für

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