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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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und blätterte in den Papieren auf dem wackeligen Tischchen zwischen Bett und Fenster, auf dem er schreiben musste. Er hatte sich heute Abend hinter die Arbeit klemmen wollen, um seine Kapitel in eine Endfassung zu bringen, die er Mrs Tarrant vorlegen konnte. Aber Laura Lou besaß ein Talent, ihm die Stimmung dermaßen zu verderben, dass ihm Arbeiten und Nachdenken gleichermaßen unmöglich waren … Während er verdrossen dastand, mit dem Rücken zu ihr, vernahm er einen leisen Ton wie das Wimmern eines Kindes, und er drehte sich um, wütend auf sich und auf sie.
    « Oh, nicht doch, Kindchen! Nicht weinen – was hat das für einen Sinn? Ich wollte nicht … ich wollte doch nur …»
    « Du hast mir so wehgetan», schluchzte sie.
    « Unsinn, Laura Lou. Hör zu … Sei kein Gänschen …»Er zog sie an sich und spürte das Fieber ihrer Lippen. Aneinandergepresst, eng umschlungen, suchten beide tastend nach dem anderen, getrieben von ihrem aufgewühlten Blut.

36
    Nachdem Vance fertig gelesen hatte, saß Halo Tarrant schweigend da. In der Bibliothek war es sehr still. Auf einem niedrigen Tisch neben Vance’ Sessel brannte eine Lampe, der Rest des Zimmers blieb dunkel und fern, außer wenn eine Stichflamme im Kamin hier und da eine Bücherreihe aus ihrem Schlummer weckte oder eine Bronzevase wie einen nassen Felsen erglänzen ließ.
    Vance’ Herz klopfte hastig. Seine Stimme war heiser vor Aufregung; er hätte nicht länger vorlesen können, ohne stecken zu bleiben. Vor Anspannung wagte er nicht, den Blick zu seiner Zuhörerin zu erheben, sondern saß nur da und fingerte mechanisch an den Papieren auf seinem Schoß herum. Vom ersten Absatz an hatte er zunehmend das Gefühl gehabt, ihr Urteil werde ungünstig ausfallen.
    « Und?», fragte er schließlich mit unsicherem Lachen. Fast unerträglich schien ihm die Pause, bis sie antwortete. Seine Kehle war staubtrocken, und ein leises Prickeln lief ihm über die Haut. Ihm war, als würde sie niemals mehr sprechen.
    « Ich glaube, Sie sollten sich mehr Zeit dafür nehmen», sagte sie.«Die Leinwand ist viel größer, als Sie es gewohnt sind, und das Sujet ist neu. Es gibt Passagen, die ich sehr schön finde, aber auch die eine oder andere Stelle, die mir unvollständig, unverdaut vorkommt … Ich bin überzeugt, dass Sie dieses Buch schreiben können; aber Sie müssen sich Zeit lassen, viel Zeit. Können Sie es nicht für ein paar Monate beiseitelegen und sich etwas anderem zuwenden?»
    Ihr Urteil fiel genauso aus, wie er es erwartet hatte, dennoch machte es ihn über die Maßen mutlos. Sie stieß immer sofort auf die Mängel, derer er sich selbst im Feuereifer des Schreibens dunkel bewusst war, Mängel, von denen er hoffte, sie würde sie übersehen, aber im Voraus wusste, dass sie sie entdecken würde; deshalb verlor er in ihrer Gegenwart seine kritische Eigenständigkeit und schwankte unbehaglich zwischen Hochstimmung und Verzagtheit.
    « Ja, ich weiß. Es ist missglückt», murmelte er.
    « Woher wollen Sie das wissen, wo Sie doch erst ein paar Kapitel geschrieben haben? Und in denen gibt es so viel Gutes. Der erste Eindruck von New York, dieser herzlos überwältigenden Stadt – er ist schon oft beschrieben worden, doch niemand hat ihn bisher so gesehen und empfunden wie Sie … Und das Anfangskapitel mit der Kleinstadt im Westen, auch das ist gut, außer vielleicht …»Sie schwieg kurz und hob unschlüssig den Blick.«Als Sie diese Stelle geschrieben haben, hatten Sie vielleicht den ‹Laden an der Ecke› ein wenig zu aufmerksam gelesen», schloss sie mit ihrem zögernden Lächeln.
    Auch er lächelte. Es war nur eine Muskelkontraktion.«Sie meinen, zu beflissen nachgeäfft?»
    « Nun ja, Einflüsse von anderer Seite machen Ihnen anscheinend zu schaffen. Aber Sie werden sich davon befreien, wenn Sie sich richtig in das Sujet eingearbeitet haben.»
    « Die Schwierigkeit ist nur, es ist nicht mein Sujet», unterbrach er sie nervös, doch sie fuhr fort:«Vielleicht noch nicht, aber das kommt, wenn Sie sich nur mehr Zeit lassen.»Er schaute auf und begegnete ihrem prüfenden Blick.«Sie sehen furchtbar müde aus, Vance. Können Sie das Buch nicht für ein paar Monate beiseitelegen?»
    Sie unterbreitete diesen Vorschlag behutsam und bittend, in sehr ruhigem, mitfühlendem Ton. Ja, dachte er plötzlich wütend, so waren diese Leute, denen materielles Wohlergehen so selbstverständlich war wie die Luft zum Atmen. Es brachte nur Unheil, wenn Arm und Reich sich mischten;

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