Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton

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Verstehen. Er und sie verstanden einander – wusste sie das nicht? – mit Geist und Gefühl, mit Augen, Händen und Lippen. Ach, ihre Lippen! In diesem Augenblick sah er nur die Form ihrer Lippen, diesen Mund, gezeichnet von jedem Lächeln, das ihn einmal umspielt hatte, als hätten sie sich alle dort angesammelt wie herabgefallene Blütenblätter.
    « Wussten Sie es nicht – wussten Sie es nicht?», stammelte er.
    Sie hatte sich erhoben und stand nicht mehr weit weg von ihm.«Das mit Ihnen?»
    « Das mit Ihnen und mir. Da ist kein Unterschied. Ist da irgendein Unterschied?»
    Er trat zu ihr und nahm ihre Hände in die seinen. Dort lagen sie wie Vögel mit gefalteten Flügeln, Vögel, die sich erst fürchten und dann plötzlich stillhalten, während ihr leise pochender Herzschlag sich beruhigt. Er versuchte, ihr ins Gesicht zu sehen, es Linie für Linie nachzuzeichnen.«Eine Ihrer Augenbrauen ist ein wenig höher als die andere – das ist mir noch nie aufgefallen», rief er triumphierend, als hätte er eine weltbewegende Entdeckung gemacht.
    Sie lachte ein wenig und entzog ihm ihre Hände.«Oh, hören Sie bitte auf, mich zu erforschen – Sie machen mir Angst», murmelte sie.
    « Ich mache Ihnen Angst? Das ist meine Absicht. Und Sie machen mir Angst. Das kommt, weil wir uns so nahe sind … Einer schaut in die Abgründe des anderen … Gefällt es Ihnen nicht, wollen Sie das nicht? Merken Sie nicht, dass es zwischen Ihnen und mir keine Fremdheit mehr gibt?»
    Sie entzog sich ihm.«Mein armer Vance – ich sehe nur, was ist. Das ist mein Fluch.»
    Sein Herz schlug schwer. Plötzlich erschien sie ihm hoffnungslos weit weg, geisterhaft und kalt. Bei aller Unerfahrenheit erkannte er, dass dies kein schlaues Täuschungsmanöver war, dass sie nicht mit ihm spielte. In ihrer Stimme lag eine furchtlose Offenheit.
    « Wollen Sie damit sagen», rief er,«dass es Ihnen gut geht? Dass Ihr Leben auch ohne mich erfüllt ist?»Sie gab keine Antwort, und er stieß hervor:«Ich würde es Ihnen nicht glauben!»
    Dieser Ausruf brachte ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen.« Dann werde ich es nicht sagen. Was hätte es auch für einen Sinn? Was würde es ändern? Ich bin hier – und Sie sind dort. Nicht unsere Nähe macht mir Angst, es sind die vielen Meilen zwischen uns – wenn Sie so reden …»
    « Haben Sie nicht immer schon geahnt, dass ich einmal so reden würde?», unterbrach er sie.
    « Ich glaube schon … aber ich habe gehofft, es würde noch lange dauern …»
    « Aber ich liebe Sie schon seit Langem.»
    Wieder schwieg sie.
    « Erinnern Sie sich an den Thundertop?»
    « O Vance – schon damals?»
    « Sogar noch früher, glaube ich. Schon als ich zum ersten Mal Gedichte las oder einen Sonnenuntergang betrachtete, waren Sie darin verborgen. Ich habe Sie nicht erst kennenlernen müssen. »
    Sie war wieder in ihren Sessel gesunken und saß da, die Hände über den Augen. Er wollte sie wegreißen, sie auf Lider und Lippen küssen, aber seine leise, heilige Scheu vor ihr stand zwischen ihnen. Sie war die Frau, nach der sich seine Arme sehnten, aber sie war auch die Göttin, das Wunder, das unerreichbare Wesen, das in den höchsten Höhen seiner Phantasie wohnte.
    « Sie hat nur Mitleid mit mir, das ist alles», dachte er bitter. Ein anderer hätte gewusst, wie man diese Barriere durchbrach; er verfügte nicht über solche Künste oder über die Lebenserfahrung, die ihn unterweisen konnte. In seiner Liebe lag eine Absolutheit, die ihn jetzt, da seine Ekstase in sich zusammengefallen war, lähmte. In seiner Vorstellung boten die Gipfelspitzen gerade genug Platz, um stumm dazuknien.
    Halo Tarrant ließ die Hände sinken und blickte aus zusammengekniffenen Augen zu ihm hoch. Sie war sehr blass, ihr Gesicht sah abgespannt aus, fast alt.«O Vance», murmelte sie,« seien Sie vorsichtig …»
    « Vorsichtig?»
    « Zerstören Sie nicht, was vollkommen ist. Diese freimütige Freundschaft. Sie war so … auserlesen.»
    Das Blut strömte in sein Herz zurück, und seine Augen schwammen in Tränen des Glücks. Sie nahmen ihm den Atem, und er blickte sie mit einer Art verzweifelter Freude an.
    « Ich habe Sie noch nicht ein Mal bei Ihrem Namen genannt», stammelte er.
    « Dann tu das jetzt», antwortete sie immer noch lächelnd. Sie stand auf und ging auf ihn zu.«Freunde duzen sich doch, oder? Aber es darf nicht über Freundschaft hinausgehen …»
    « Das hat nichts mit Freundschaft zu tun.»
    « Oh, das ist ein Irrtum, Vance. Es