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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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normales Zeitmaß.
    Sie reichte ihm die zusammengelegten Seiten; seine Hände berührten die ihren, als er sie entgegennahm. Dann drehte er sich um, und die Tür schloss sich hinter ihm. Es war vorbei.

37
    Vance stand auf der Straße und schaute in den nächtlichen Himmel. Die sternenübersäte, wenn auch vom profanen Widerschein der Stadt entweihte Dunkelheit rief ihm jenen anderen Himmel in Erinnerung, zu dem er vom Strand aufgeblickt hatte, als er sich in der Morgendämmerung von seiner Frau fortgeschlichen hatte.
    Das Meer – seit damals hatte er es nicht mehr gesehen! Konnte er jetzt dorthin? Die unendlichen Gezeiten schienen sich über ihm zu brechen; er hörte sie in seiner Brust. Ihn überkam die grenzenlose Sehnsucht, wieder an diesem Ufer zu stehen, sie wallte aus den Tiefen herauf, die den Quell aller Dinge bargen. Er starrte auf diese Vision, bis sie übermächtig wurde. Er musste das Meer wiedersehen, noch heute Nacht. Ein Uhr morgens … ein Märzmorgen. Er musste nur irgendwie hinkommen, noch vor der Morgendämmerung, musste dem Wunder auflauern …
    Er ging hinüber zur Pennsylvania Station und erkundigte sich nach Zügen. Einer fuhr jetzt gleich, und als sich der Zug in Bewegung setzte, war Vance bereits im Abteil. Das überstürzte Einsteigen und das geheimnisvolle, leichte Hinausgleiten in die Dunkelheit, ins Unbekannte, dämpften seine innere Unruhe, und er empfand so etwas wie Frieden. Er erinnerte sich, dasselbe demutsvolle, aber zugleich tröstliche Gefühl am Morgen nach seiner Hochzeit verspürt zu haben, als er vor die Tür getreten war und angesichts der Unendlichkeit Ehrfurcht empfunden hatte, aber auch Sicherheit … Der Zug fuhr dahin zwischen Inseln aus Mauerwerk und endlosen, mit Lichtern behängten Straßen, dann durch stille, kaum zu erahnende Bäume und Wiesen; er hielt an verschlafenen Bahnhöfen, fuhr wieder an, tastete sich in träumerischer Verwirrung unter einem schwarzen Himmel voller Sterne vorwärts. Endlich zeichnete sich vor farblosen Sandhügeln dunkel eine kleine Station ab … und Vance, allein auf dem Bahnsteig, sah dem Zug nach, der unsicher weiterratterte, als müsste er sich seinen Weg selbst bahnen. Vance wandte sich um und suchte seinerseits nach einem Weg. Im Westen hing eine verhungerte Mondsichel, machtlos gegen die unermessliche Dunkelheit, doch als er die letzte Dünenreihe erreichte, war sie gesäumt von einem zitternden Licht, das sich unmerklich auf den weiten, blassen Atlantik ausdehnte.
    Da war es endlich, das Meer bei Nacht, einer windigen Märznacht, die schwarze Wolkenschleppen über die Sterne wälzte und Regengeglitzer auf die eilenden Wellenkämme warf. Der Wind war kalt, doch Vance spürte ihn nicht. Die alte Wesensverwandtschaft erwachte in ihm, das Gefühl, dass diese endlose Brandung von derselben unterschwelligen Kraft bewegt wurde, die auch ihn, den Lauschenden, hin und her wiegte. Er sank auf den Strand, blieb dort liegen und ließ die Nacht und das Meer auf den Schwingen dieses leidenschaftlichen Sturms durch sich hindurchjagen. Er fühlte sich wie ein Pünktchen in diesen riesigen, urgewaltigen Händen und war sich dennoch seiner selbst und seiner Zukunft gewiss, wie ein Samenkorn, das in den Spalt geweht wird, in den es gehört. Nach einer Weile spürte er gar nichts mehr, allenfalls noch dunkel, dass er ein unendlich winziger Teil dieser gewaltigen nächtlichen Pracht war …
    Um fünf Uhr morgens fuhr er durch erlöschende Lichter und tote Straßen zurück zu Mrs Hubbard. Alle Herrlichkeit war verschwunden; der gewaltsame Ansturm der Wirklichkeit ernüchterte und enttäuschte ihn. Eine letzte Ahnung des Unmöglichen durchwehte ihn. Halo hatte gesagt:«… weil ich meinen Mann niemals wegen meines Liebhabers verlassen werde …», und was bedeutete das anderes, als dass sie zu ihm käme, wenn kein Hindernis zwischen ihnen stünde? Einen Augenblick lang schien es ihm fast zu genügen, dass irgendwo in seinem Herzen, unsichtbar, die grenzenlosen Weiten ihrer Liebe lagen, aufgewühlt und silbrig glänzend … Als er sich dem Haus näherte, wurde dieses Bild von der hässlichen Gegenwart ausgelöscht. An der Ecke zur Sixth Avenue bedrängte ihn ein angesäuseltes Mädchen. Vor Mrs Hubbards Tür schoss eine ausgemergelte Katze aus dem Hof. Das waren seine Welt, seine Straße, sein Haus … Er wusste jetzt, dass sie beide niemals frei sein würden. Niemals würde sie zu ihm kommen; es war alles nur ein vergängliches, unwirkliches,

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