Ein altes Haus am Hudson River
nebelhaftes Schattenbild … Er steckte den Schlüssel ins Schloss und stieg mit den Schritten eines alten Mannes die Treppe hinauf.
Am nächsten Tag lag Laura Lou mit Fieber im Bett. Sie hatte sich am Tag der«Storecraft»-Ausstellung in ihrem dünnen Sommermantel erkältet. Diese Erkrankungen traten nun immer häufiger auf, und danach wirkte sie mit jedem Mal ein wenig schwächer. Vance wagte nicht, schon wieder den Arzt zu holen; er war in letzter Zeit mehrmals bei ihr gewesen, und es war kein Geld da, um ihn zu bezahlen. Vance tat, was er konnte, damit sich Laura Lou wohlfühlte, und erklärte Mrs Hubbard – deren Verhalten zwar immer noch bedrückend damenhaft, im Lauf der Wochen aber distanzierter geworden war –, das Essen müsse nach oben gebracht, Milch erwärmt, Hustensaft abgemessen werden. Er drückte dem schlampigen schwedischen Dienstmädchen, das seine Anweisungen selten verstand und nie ausführte, einen Vierteldollar in die Hand, dann machte er sich auf den Weg in die Redaktion.
Von Lambart und Co., den Verlegern, die so zuversichtlich geglaubt hatten, ihn von Dreck und Saltzer loslösen zu können, war keine Nachricht gekommen. Vielleicht hatte das Thema seines Romans ihre Begeisterung abflauen lassen. Im Postfach fand er einen Brief seiner Großmutter; jetzt hatte er keine Zeit, ihn zu lesen, aber der Anblick ihrer Schrift brachte ihm Euphoria vor Augen, das bequeme Haus in der Mapledale Avenue, ein sicheres, anständiges Zuhause. Was, wenn er den Vorschlag seines Vaters akzeptierte und mit Laura Lou dort hinzog? Wenn er eine Stelle bei der Zeitung annahm und keine Romane oder literarischen Artikel mehr schrieb, würden seine Verträge mit Dreck und Saltzer und der«Neuen Stunde»wohl von selbst null und nichtig werden. Er konnte einfach zurückkehren und wieder der alte Vance Weston sein, dann wäre es, als hätte der New Yorker Vance nie existiert …
In der Redaktion traf er weder Tarrant noch Eric Rauch an. Er hatte seine Arbeit mitgebracht und setzte sich an den Schreibtisch mit dem festen Vorhaben, die letzten Kapitel durchzugehen und zumindest zu versuchen, die Ähnlichkeiten mit dem«Laden an der Ecke»auszumerzen. Aber der Anblick der Seiten rief ihm plötzlich die Bibliothek in Erinnerung, wo er am Abend zuvor mit Halo Tarrant gesessen und, auf dem Fußboden kniend, mit ihr die verstreuten Blätter eingesammelt hatte. Das Papier brannte noch von ihrer Berührung. Er schloss die Augen und schob es beiseite … Euphoria war sein einziger Ausweg …
Er öffnete den Brief seiner Großmutter. Sie schrieb immer liebevoll, und ihre unbekümmerten, freimütigen Sätze beschworen sie herauf, als stünde sie mit ihrem massigen, üppigen Körper und ihrer samtigen Stimme leibhaftig vor ihm. Der lebendigste Mensch, den er je kennengelernt hatte, dachte er lächelnd. Dann las er:
« Vance, mein Kind, ich komme nach New York – bin dort nächste Woche mit Saidie Toler.»
In Briefen nannte sie ihre Töchter immer beim vollen Namen.
« Du kannst dich darüber kaum mehr wundern als ich, und wahrscheinlich wundert sich sogar Gott ein winziges bisschen darüber …»
Sie erklärte, dass sie seit Großvaters Tod etwas mehr Zeit für geistliche Belange übrig habe, und zur Belohnung hierfür sei sie eingeladen worden, in verschiedenen Kirchen zu predigen, nicht nur in Euphoria, Swedenborg und Swedenville, sondern auch weit über Chicago hinaus, in großen Orten wie Dakin und Lakeshore – nur nenne sie das nicht Predigt (da könne er sicher sein!), sondern«Begegnung mit Gott» – ob das nicht eine gute Formulierung sei? Ihre«Begegnungen mit Gott»seien in«Licht der Seele»abgedruckt worden, und die Auflage sei dermaßen in die Höhe geschnellt, dass die Zeitschrift mit ihr bereits einen Vertrag über eine weitere Artikelserie geschlossen habe. Dann sei sie plötzlich von einer Gruppe gescheiter Leute in New York, die sich«Die Suchenden»nannten («Ein schöner Name, nicht wahr?»), eingeladen worden. Die seien anscheinend im«Licht der Seele»auf ihre Ansprachen gestoßen und davon so ergriffen gewesen, dass sie wünschten, sie möge für eine Woche nach New York kommen, dort in Privathäusern sprechen und den« Suchenden»Gelegenheit geben, ihre heimlichen Zweifel und Schwierigkeiten bei ihr abzuladen. («Du weißt ja», fuhr sie in ihrem bekannt humorvollen Ton fort,«es ist ein Kinderspiel, anderen zu sagen, was sie falsch machen!») Natürlich könne sie nicht umhin, in alldem Gottes Hand
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