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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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musste – noch immer erlebte er dieses stumme Aufschwingen geheimer Türen. Er wusste nie, wann oder wie es dazu kommen würde, manchmal schien ihm, als sei er selbst nur der Riegel, den eine unsichtbare Hand zurückschob, um das Tor zum Himmel aufzustoßen …
    Und nun war er drin! War kein Riegel mehr, sondern der König selbst, für den sich die Tore geöffnet hatten. Das alles war ganz und gar unwahrscheinlich und unerklärlich, doch im tiefsten Innern kam es ihm selbstverständlich vor, und das Wie und Warum kümmerten ihn so wenig wie ein Kind, das man in einen unbekannten Garten laufen lässt. Im Grunde war dies das einzige menschliche Erlebnis, das er wirklich verstand, obwohl er unfähig war, darüber Rechenschaft abzulegen.
    Und so erging es ihm jetzt immer: Dieses plötzliche Wahrnehmen des Apfelbaumzweiges fiel mit der überdeutlichen Vision eines neuen Buches zusammen. Früher hatte dieser Blitz aus geheimnisvollem Licht stets alles andere ausgelöscht, aber mit zunehmendem handwerklichem Können erkannte er, dass das Licht, wenn die Tore aufschwangen, nicht nur die himmlischen Weiten erleuchtete, sondern auch den profanen Vordergrund. Seine Ratlosigkeit endete in dem Augenblick, in dem sich der innere Glanz offenbarte, und diese zutage tretende Macht schenkte ihm inmitten des Aufruhrs ein Gefühl von Sicherheit und unverletzlicher Ruhe …
    Der Streit mit Tarrant war unentschieden und lahm verebbt, wie die meisten geschäftlichen Auseinandersetzungen. Vance begriff allmählich, dass nur intellektuelle Meinungsverschiedenheiten, abstrakte Kämpfe um ein absolutes Ziel, erhaben enden können. Das Zerreißen seines Manuskripts war das Ergebnis einer leidenschaftlichen Anwandlung gewesen, aber es hatte seine Situation weder verbessert noch merklich verschlechtert. Eric Rauch meinte, Tarrant werde ihn niemals gehen lassen, das sei« nicht seine Art». Rauch riet Vance, die verlorenen Kapitel noch einmal zu schreiben, und war aufrichtig erstaunt, als dieser antwortete, das sei ihm nicht möglich. Rauchs Begriff von künstlerischen Erzeugnissen war (trotz seines Gedichtbandes) ein rein wirtschaftlicher, als wären sie genormt wie Motorenbauteile. Doch Vance konnte nur sagen, dass das Buch unwiederbringlich verloren war.
    Schließlich kam man überein, dass Tarrant ihm Zeit gab, einen anderen Roman zu schreiben, und die«Neue Stunde»unterdessen sein dürftiges Gehalt weiterzahlte. Bald darauf war die erste Rate der Tantiemen für«Anstatt»fällig. Sie lag etwas über den Erwartungen von Dreck und Saltzer, und Vance konnte die Hälfte des geliehenen Geldes zurückzahlen sowie die Zinsen und seine anderen Schulden begleichen. Nach dem letzten Gespräch mit seiner Großmutter hatte er lange und angestrengt über die Zukunft nachgedacht und war zu dem Ergebnis gekommen, die Entscheidung Laura Lou zu überlassen. Er erzählte ihr nichts von Mrs Scrimsers Angebot und seinem Entschluss, das Geld, das sie mit ihrer Vortragsreise zu verdienen hoffte, nicht anzunehmen. Wenn er darüber sprach, weckte er in seiner Frau womöglich Hoffnungen, die er enttäuschen musste, ohne ihr begreiflich machen zu können, warum. Zwei Alternativen legte er ihr vor: das Angebot, bei seiner Familie zu leben, oder die Möglichkeit, dass sie zu Mrs Tracy und Upton nach Kalifornien zog. Letzteres kam ihn hart an, denn mit diesem Vorschlag gestand er ein, dass es ihm nicht gelungen war, sie glücklich zu machen oder gut zu versorgen. Aber mit dem Achselzucken eines Hasardeurs sagte er sich:«Wenn sie sich dafür entscheidet, zu ihrer Mutter zu ziehen, bedeutet das, dass sie frei sein will, und wenn sie das will, muss ich sie gehen lassen.»Er verstand noch immer nicht, warum ihn dieser Gedanke irritierte und nicht beschwingte, und wusste nicht recht, ob seine sture Entschlossenheit, sie bei sich zu behalten, solange sie das wollte, mehr der Erinnerung geschuldet war oder mehr seinem Stolz.
    Die Vorstellung, zu seiner Familie zurückzukehren, fand er indes kaum weniger abscheulich. Mr Weston hatte sein Angebot erneuert. Obwohl seine Karriere als Immobilienmakler durch unbesonnene Spekulationen etwas gelitten hatte, war er bereit, seinen Sohn und dessen Frau in sein Haus aufzunehmen und für Vance eine Arbeit zu suchen. (Er meinte, beim«Offenen Wort»gebe es noch immer eine Chance.) Aber bereits die wenigen Stunden mit der Großmutter hatten Vance Euphoria in einem gnadenlosen Licht gezeigt. Bei jeder Andeutung, jedem Themenwechsel, jedem

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