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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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wieder schlafen?»
    Schon halb entschlummert murmelte sie:«Ja», und er beugte sich über sie, küsste sie und stahl sich davon.
    Als er sich zum Essen setzte, überlegte er:«Ich muss unbedingt eine Frau holen, die für sie wäscht.»Dann wanderten seine Gedanken wieder zu seinem Buch. Nach dem Essen wärmte er sich eine Tasse Kaffee auf und stellte sie mit der Lampe auf seinen Schreibtisch.
    In den nächsten Tagen war Laura Lou schwach und matt, und er musste täglich eine Frau für die Hausarbeit kommen lassen. Aber dann war sie wieder auf den Beinen, sah fast gesund aus und sang in der Küche, während er am Schreibtisch saß. Ein goldener Oktobertag folgte dem anderen, und wenn die Hausarbeit getan war, trug er einen Korbstuhl unter den Apfelbaum, Laura Lou setzte sich fest eingemummelt in die Sonne und flickte, und er rief ab und zu durchs Fenster nach draußen:«Soll das verdammte Buch doch zur Hölle fahren, es will nicht weitergehen! »Oder:«Kind, ich glaub, ich hab’s!»

43
    Die goldenen Tage bekamen die ersten Regenflecken, aber die Luft blieb warm, und das Leben in dem kleinen Häuschen ging ruhig seinen gewohnten Gang. Vance, eingetaucht in seine Phantasiewelt, merkte kaum, dass in der wirklichen Welt die Stunden mit Tageslicht rasch weniger wurden und morgens im Obstgarten weißer Raureif lag.
    Laura Lou schien sich erholt zu haben; aber sie wurde noch immer leicht müde, und die Waschfrau musste fast täglich kommen, um bei der Hausarbeit zu helfen. Dann schlug das Wetter um, es wurde kalt, und die Kohlerechnung stieg jäh an. Das Haus war nicht für den Winter gebaut; Vance musste mehrere Öfen kaufen und die Ofenrohre durchs Dach schieben. Doch trotz dieser Maßnahmen war er sich kaum bewusst, dass die Zeit verging, und er hätte sich vielleicht ahnungslos bis zum Jahresende so dahintreiben lassen, wenn er nicht vor den altbekannten Geldproblemen gestanden hätte. Durch die Kohlen, die Öfen, die Waschfrau und den Kauf weiterer Decken und warmer Kleidung hatten sich die monatlichen Ausgaben bereits verdoppelt, wie würde es erst sein, wenn der Winter kam? Immerhin durften sie in diesem baufälligen Haus für ein Butterbrot wohnen, und hier zu bleiben kostete vielleicht weniger als umzuziehen.
    Etwa einen Monat nachdem seine Großmutter aus New York abgereist war 104 , kam ein Brief von ihr. Sie berichtete vom Erfolg ihrer Vortragsreise und pries die kluge Vorgehensweise von«Storecraft»in den höchsten Tönen. Sie schilderte begeistert, wie man die Werbung organisiert habe, schrieb, das bringe viele Seelen zu Jesus, und erinnerte Vance liebevoll an ihr Angebot, ihm und Laura Lou ein Zuhause zu bieten. Sie sei bereit dazu, sobald sie ihre Schulden bei Mr Weston beglichen habe, und nach ihrem gegenwärtigen Erfolg zu urteilen, sei es bald so weit. Um ihren Optimismus zu rechtfertigen, legte sie eines der Ankündigungsschreiben bei, mit denen«Storecraft»das Land überflutete, zusammen mit lobenden Artikeln aus Lokalzeitungen und einer Hymne aus ihrem eigenen Sprachrohr«Licht der Seele», das ihre religiösen Erfahrungen mittlerweile in Fortsetzungen herausbrachte. Treuherzig erklärte sie, sie glaube auf solche Ergebnisse stolz sein zu dürfen, und fügte hinzu, das beweise jedenfalls, dass es in den Vereinigten Staaten viele kulturelle Zentren gebe, in denen die seelische Temperatur höher sei als in den arktischen Kreisen der Park Avenue.
    Der Brief rührte Vance. Er kam zu einem Zeitpunkt, da ihn der Winter mit seinen Problemen bedrückte, und vielleicht hätte er den Vorschlag der Großmutter angenommen, wenn sie nicht diese Zeitungsartikel beigelegt hätte. Aber sie waren nun einmal da, schamlos großsprecherisch, und Mrs Scrimsers Stolz darauf bewies, dass die Argumente und Bitten ihres Enkels sie völlig ungerührt gelassen hatten oder dass sie zumindest blind für deren Bedeutung war. Und letztendlich entlastete sie diese Blindheit. Wenn sie sich tatsächlich für eine vom Himmel gesandte Predigerin hielt, warum sollte sie nicht von ihren Predigten leben? Sie täuschte ja niemanden arglistig, tat also nichts Unehrenhaftes. Sie gab den Menschen nur, was sie haben wollten und ihrer aufrichtigen Meinung nach auch haben sollten.
    Ja, aber das alles gründete sich auf diese geistige Oberflächlichkeit, die er so verabscheute. Weil sie mit dem kürzesten Weg zum Ruhm zufrieden war und ihre Zuhörerschaft mit wohlklingenden Worten, die keine geistige Anstrengung erforderten, füllte sie Säle

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