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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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erklärte:«Die Blumen dort waren nicht annähernd so hübsch.»Oft hörte er sie jetzt bei der Arbeit singen, bis ihr Schweigen ihm verriet, dass die Müdigkeit sie übermannt hatte und sie auf dem Schaukelstuhl in der Küche eine Pause einlegen musste … Arme Laura Lou! Während dieser Monate in ihrem Häuschen hatte er sie aufs Genaueste kennengelernt, und sein Mitleid hatte sich wieder in Zärtlichkeit verwandelt. Vielleicht war sie doch die Art von Frau, die ein Künstler brauchte …
    Er erreichte den Wald, kletterte auf einen Felsvorsprung, von dem aus er das ferne Blau der Meerenge sehen konnte, und streckte sich mit Brot, Käse und seinem Traum in der Sonne aus … Unbedingt musste er das Buch«Zauber»nennen …
    Der Vorhang vor seiner inneren Bühne öffnete sich, die handelnden Personen traten eine nach der anderen auf, erst nur schwach umrissen, dann immer deutlicher, zuletzt im vollen Licht. Die äußere Welt verschwand, Liebe, Leid, Armut, Krankheit, Schulden, die großen Enttäuschungen und die kleinen täglichen Plagen, selbst die tröstliche Landschaft ringsum, alles schrumpfte zusammen wie die Welt in der Apokalypse, 103 und nichts blieb in der lichtlosen Leere als dieser eine kleine, leuchtende Raum. Das Phänomen war Vance nicht neu, aber nie zuvor hatte er genug Distanz gewahrt, um sein Geheimnis in voller Schärfe zu verfolgen. Vom ganzen Gewimmel der Welt war nichts übrig als dieses winzige Zentrum geballter Geschäftigkeit, in dem Geschöpfe, die ohne seinen Willen geboren worden waren, ihr kompliziertes und leidenschaftliches Leben lebten. In solchen Momenten verblassten seine intensivsten persönlichen Erfahrungen genauso wie der Rest der Wirklichkeit, und eine mysteriöse innere Verschiebung bewirkte, dass er nicht mehr er selbst war, sondern der Lebenskern dieser aus dem Nichts entstandenen Wesen. Es gab sie, sie waren wirklich, sie waren die einzige Wirklichkeit, und er, der doch die Voraussetzung für ihre Existenz war, war dennoch von ihnen getrennt und zu ihrem Chronisten berufen … Als er nach Einbruch der Dunkelheit zurückwanderte, hungrig und glücklich unter den klaren Herbststernen, blieb er plötzlich stehen und dachte:«Mein Gott, wenn ich es ihr erzählen könnte …»Aber selbst dieser stechende Schmerz ging rasch vorüber. Diese Menschen waren seine Menschen, er hielt die Fäden ihrer Leben in der Hand, ihm war die Vision geschenkt worden, und dies schien fürs Erste genug, mehr vermochte sein angespanntes Bewusstsein nicht zu fassen …
    Vom Haus blinkte ein Licht durch den Apfelbaumzweig, an dem sein Buch gehangen hatte. Der schwache Schein strahlte etwas beruhigend Heimeliges aus. Er sah den Esstisch in der Küche vor sich, sah seinen Schreibtisch mit der lockenden Lampe. Sobald er gegessen hatte, würde er unter dieser Lampe an die Arbeit gehen, während ihm die große, schattenschwarze Nacht zusah …
    Unter dem Apfelbaum blieb er stehen und lauschte. Vielleicht hörte er Laura Lou singen und sah, wie sich ihr Schatten auf den zugezogenen Rollos bewegte. Aber das Haus war still. Er ging zur Tür und trat ein. Der Tisch war mit einer Sardinenbüchse, Kartoffeln und Pickles gedeckt. Alles sah ordentlich und einladend aus, aber Laura Lou war nicht da. Beunruhigt erinnerte er sich an ihr blasses Gesicht mit dem seltsamen, schiefen Lächeln, und er stieß die Tür zum Schlafzimmer auf. Dort war es dunkel, und er ging zurück, um die Lampe zu holen. Laura Lou lag zugedeckt auf dem Bett. Sie rührte sich nicht, drehte sich nicht um, als er eintrat. Mit der Lampe in der Hand beugte er sich leicht besorgt über sie, doch als das Licht auf ihre Lider fiel, schlug sie die Augen auf und blickte ihn ruhig an, wie damals am Hochzeitsabend, als er mit dem Essen von der Farm zurückgekommen war und sie schlafend vorgefunden hatte. Die Angst fiel von ihm ab.«Hallo! Ich glaube, ich habe dich geweckt», sagte er.
    Sie lächelte ein wenig, nicht mühsam, sondern ungezwungen.« Ja.»
    « Du bist doch nicht krank, mein Kind?»
    « Nein, nein», beruhigte sie ihn.
    « Nur ein klein bisschen müde?»
    « Ja. Ein klein bisschen.»
    Er setzte sich auf die Bettkante.«Ich glaube, wir sollten uns eine Frau holen, die dir hilft.»
    « Ja. Vielleicht für die Wäsche …»
    « Meinst du, das Waschen hat dich so müde gemacht?»
    « Vielleicht.»Sie schloss friedlich die Augen und wandte den Kopf ab.
    « Gut. Hast du etwas gegessen?»
    « Ja. Ich hab Milch getrunken.»
    « Und jetzt möchtest du

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