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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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entdecken würde, die sich deutlich von der nichtssagenden Menge abhoben. Aber er war sehr früh gekommen; fast alle Parkettplätze waren noch leer, und er konnte unmöglich genau ausmachen, auf welchen Stühlen sie gesessen hatten. Schmerzlich unverwandt starrte er hinunter und beobachtete, wie sich der große Zuschauerraum allmählich füllte. Die Musik hatte er in seinem wahnsinnigen Verlangen, Mrs Tarrant wiederzusehen, ganz vergessen. Er hatte nicht vor, sie anzusprechen – wozu auch? –, aber schon ihr Anblick würde ihn in einen bitteren Rausch versetzen, und heute Abend war er auf der Jagd nach jeder Art von Rausch …
    Dann setzte plötzlich die Musik ein. Von ihm unbemerkt war das Orchester lautlos einmarschiert, hatte Reihe um Reihe die Bühne gefüllt, eine Geste des Dirigenten hatte die Stille beendet, und in der Tiefe seiner Seele regte sich das Echo auf die schicksalsschweren Akkorde.
    Vance lauschte im wirren Entzücken derer, für die die Welt der Töne ein unverständlicher Himmel ist. Als Halo Tarrant ihn damit bekannt gemacht hatte, hatte er sich über seine Unfähigkeit, dieses neue Gefühl zu analysieren, geärgert. Er meinte, große Dichtkunst und die Wissenschaft der Zahlen müssten einem zu den mathematisch exakten Gesetzen, die dieser verwandten Kunst zugrunde lagen, Zugang verschaffen, und als er merkte, dass dies nicht zutraf, dass ein für Wortwohlklang hochbegabtes Ohr beim Zergliedern des reinen Tons schwerfällig sein kann, verblüffte und demütigte ihn das. Doch mit der Zeit erkannte er, dass sich bei schöpferischen Menschen zwei solche Gefühlsbereiche meist nicht ohne Verwirrung überschnitten. Er brauchte allen Scharfsinn und alles präzise Empfindungsvermögen für seine eigene Arbeit; es war besser, wenn sein eigenes Reich vom gewaltigen goldenen Dunstschleier der anderen Künste nur umgeben war wie ein winziges, kultiviertes Eiland von der unbestimmten Weite eines Ozeans bei Sonnenuntergang … ein Ozean bei Sonnenuntergang, das war es! Die sprachlosen Tiefen erwachten beim Aufbranden dieser Töne, so wie damals beim Aufbrausen des Meeres oder bei dem leidenschaftlichen Gemurmel, das Liebende einander in die beglückten Herzen wispern … Und das war genug.
    In der ersten Pause blieb er lange mit geschlossenen Augen sitzen, als ob der angestaute Eindruck verschwände, wenn er sie öffnete. Dann nahm er sich zusammen und blickte hinunter ins Parkett. Es füllte sich schon wieder, er erkannte die beiden Plätze, auf denen er und Mrs Tarrant gesessen hatten. Sie waren leer, und das schien ihre Identität zu beweisen und die Erinnerung an jenen Abend zu besiegeln. Doch jetzt war es nicht mehr wichtig, ob sie kam oder nicht – in der Fülle der Musik war sie die Seine. Wieder schloss er die Augen, und die vielgestaltigen Fluten schlugen über ihm zusammen.

44
    Draußen vor dem Haus lag der Schnee so hoch, dass Vance seine Arbeit unterbrechen musste (in letzter Zeit unterbrach er sie ständig), um einen Weg von der Haustür zur Straße frei zu räumen. Das Schaufeln der schweren, gefrorenen Schneemassen strengte ihn an; seine Muskeln waren durch die vielen Stunden am Schreibtisch schlaff geworden. Auf die Schaufel gestützt, stand er reglos in der glitzernden Wintersonne, während die harte, frostige Arbeit in seinem Gehirn wie eine Droge wirkte.
    Wochen waren vergangen seit seinem letzten Besuch in New York. Nach dem Tag mit dem Beethoven-Konzert war er nicht mehr hingefahren. Die Gespräche mit den Freunden im«Cocoanut Tree»und der lange Abend im Rausch der Musik hatten seine Phantasie in Bewegung gesetzt, und er war heimgekehrt wie von einem Abenteuer in fernen Ländern, beladen mit Schätzen, die er in das Fleisch und Blut seiner Geschöpfe umwandeln musste. Schon oft war ihm aufgefallen, welch winziger Funke an Erfahrung oder Erregung genügte, um diese Energieexplosion hervorzurufen, und mit dieser Beute im Herzen eilte er genauso ungeduldig in die Einsamkeit zurück, wie er sie verlassen hatte.
    Er kehrte zwar mit geistigen Reichtümern nach Hause zurück, doch ohne materiellen Erfolg. Es war ihm nicht gelungen, Geld aufzutreiben, dabei brauchte er bis zum Monatsende unbedingt welches. Seit vierzehn Tagen hatte sich die Frau, die Laura Lou half, nicht mehr blicken lassen. Sie wohnte etwas weiter weg, und als Vance loszog und sie aufspürte, entschuldigte sie sich mit der Ausrede, es sei so kalt und der Weg von der Straßenbahnhaltestelle so lang und verschneit. Vance

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