Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
Vom Netzwerk:
vor, als stelle er seine Augen auf ein außergewöhnlich starkes Mikroskop ein.
    « Hm, Gedichte. Lauter Gedichte?»
    « Das meiste.»
    « Na, mit Gedichten können Sie Ihren Lebensunterhalt nicht verdienen, das ist ein reiner Luxusartikel. Wie ein Automobil. »
    Es folgte ein Schweigen. Ab und zu wurde es unterbrochen von einem Geräusch, das in Vance’ Ohren wie das Tosen des Meeres klang, in Wirklichkeit aber nur das kaum wahrnehmbare Rascheln war, wenn Frenside ein Blatt umwandte. Er war es zweifellos nicht gewohnt, Handgeschriebenes zu lesen, und zu Vance’ qualvoll banger Ahnung gesellte sich noch die demütigende Scham, dass er nicht imstande gewesen war, seine Gedichte zu tippen, bevor er sie ihm vorlegte. In den meisten Redaktionen hätten sie Handschriftliches gar nicht angesehen, das wusste er; dadurch, dass er Frenside die Gedichte in dieser Form zu lesen gab, beraubte er sie vielleicht ihrer einzigen Chance. Vance überlegte, ob er anbieten solle, sie vorzulesen, doch dann fiel ihm Miss Spears Kommentar zu seiner Vortragsweise ein, und er traute sich nicht.
    Immer noch tosendes Umblättern.
    « Hm», sagte Frenside wieder. Er breitete die Papiere vor sich aus und paffte schweigend weiter.
    « Na ja, Sie sind gerade im emsigen Alter», fuhr er nach einer Pause fort. (Was bedeutete das?)«Kann man natürlich nicht ändern. Hier haben wir das unvermeidliche Shakespeare-Sonett: ‹Ich bin, wozu mich deine Liebe machte› – und der Whitman: ‹Rätselhaft riesige Weite der See, unerreichbar›. Stimmt genau. Das ist für Sie unerreichbar, mein lieber Junge, zumindest im Augenblick. Haben Sie das Meer schon einmal gesehen?»
    Vance war nicht Herr seiner Stimme. Er schüttelte den Kopf.
    « Nicht einmal in Coney Island?»Frenside zuckte die Achseln.« Spielt aber auch keine Rolle. Schauen Sie: Das alles taugt nur für die Dichterecke. Versuchen Sie es bei Ihrer Heimatzeitung. Das ist mein Rat. Natürlich gibt es hie und da hübsche Stellen; Sie mögen es, wie Wörter sich anfühlen , nicht wahr? Aber Dichtung, mein Sohn, ist keine halbe Sache. Ich habe einmal einen sehr belesenen Freund gefragt, ob er sich etwas aus Gedichten mache, und er hat vorsichtig geantwortet: ‹Ja, bis zu einem gewissen Grad.› Aber das Teuflische ist, dass wahre Dichtkunst erst jenseits dieses gewissen Grades beginnt … verstehen Sie?»
    Vance bedeutete ihm, dass er verstehe. Irgendwie gefiel ihm diese Definition von Dichtung, selbst wenn ihr seine eigenen Gedichte zum Opfer fielen.
    « Wie steht ’s mit Prosa, haben Sie so etwas nie geschrieben?»
    Diese unerwartete Frage riss Vance aus seiner Träumerei.« Ich – ich schreibe an einem Roman.»
    « Holla – tatsächlich? Worüber?»
    « Über das Leben in New York.»
    « Das hab ich mir gedacht», sagte Frenside grimmig. Wieder herrschte Schweigen.«Haben Sie es noch nie mit einem Artikel oder einer Kurzgeschichte versucht?»
    « Nie mit etwas, was – gut genug gewesen wäre.»Vance erhob sich müde.«Das hier nehme ich wohl wieder mit und verbrenne es», sagte er und griff nach den Gedichten.
    « Nein, tun Sie das nicht. Behalten Sie es und lesen Sie es in ein paar Jahren wieder. Das erfordert mehr Mut, und Mut ist so ziemlich das wichtigste Werkzeug eines Künstlers.»Diesen Eindruck hatte Vance allmählich auch.
    « Hören Sie», fuhr Frenside fort,«wenn Sie mal einen kurzen Essay oder eine Geschichte geschrieben haben, bringen Sie’s mir. Nicht vergessen.»Er lächelte ein wenig, als wollte er die Wunden, die er geschlagen hatte, verbinden.«Man weiß ja nie», schloss er vieldeutig.
    Er hielt ihm die Hand hin. Das Gespräch war vorüber.
    Das Gespräch war vorüber, doch erst am Fuß der Treppe begann Vance die Auswirkungen zu spüren. Er wanderte ein paar Straßen entlang, fand sich plötzlich am Union Square wieder und setzte sich in den spärlichen Schatten der verhungerten Bäume. Seine Banknachbarn, apathische, aufgedunsene, schwitzende Männer ohne Hemdkragen, erschienen ihm wie Gefährten im Elend, die ihm auf der abschüssigen Treppe des Versagens schon ein paar Stufen vorausgegangen waren. Vielleicht hatten auch sie – oder zumindest einer von ihnen – das Unmögliche versucht, so wie er. Er fröstelte ein wenig beim Gedanken an eine solche Verwandtschaft.
    Aber ganz allmählich tauchte aus dem Nebeldunst ein leuchtender Punkt auf.«Zeitungen helfen Ihnen nicht weiter», hatte Frenside gesagt, und plötzlich erkannte Vance, dass sich diese Aussage mit

Weitere Kostenlose Bücher