Ein altes Haus am Hudson River
Stunde». Vance’ Hände wurden kalt. Sekundenlang blickte er auf den ominösen Absender, dann riss er den Umschlag auf und las:
« Sehr geehrter Herr,
der Herausgeber der ‹Stunde› lässt Ihnen ausrichten, dass er Ihre Erzählung ‹Ein Tag› gern abdrucken würde, obwohl ‹Die Stunde› normalerweise keine Kurzgeschichten veröffentlicht. Einen Scheck über 50 $ lege ich bei.»
Es folgte eine unleserliche Sekretärinnenunterschrift und darunter, mit einem stumpfen Bleistift nachlässig hingekritzelt:
« Fahren Sie heim und schreiben Sie noch mehr so Zeug.
Frenside.»
Vance stand lange Zeit regungslos da, den Brief in der Hand. Anfangs empfand er gar nichts, und was dann in ihm aufstieg, war etwas viel Heftigeres als Freude. Es war eher so, als wäre er von einer Menschenmenge erfasst und herumgestoßen worden, bis ihm die Luft wegblieb, so wie damals, als er sich nach dem Baseballspiel mit Upton einen Weg zu dem Auto der Crans bahnte …
« Ich will das Meer sehen», sagte er plötzlich laut. Er wusste nicht, woher die Worte kamen, aber es war eine überwältigende Eingebung. Vielleicht hatte er sich unbewusst an Frensides spöttische Bemerkung erinnert:«Haben Sie schon einmal das Meer gesehen? Auch nicht auf Coney Island?»Gut, dann würde er es jetzt sehen.
Er steckte den Scheck in die Tasche und ging wieder aus dem Haus. Mit diesem Talisman an der Brust fühlte er sich stark genug, die Welt zu erobern. Was konnte er sich damit nicht alles kaufen! Als Erstes würde er sich eines der größten Dinge im Weltall leisten … Er ging zum«Freundschaftshaus», spürte den freundlichen Verwalter auf und löste den Scheck bei ihm ein. Dann beschloss er, das Geld im Safe des Verwalters zu hinterlegen; die überfüllten Züge waren viel zu gefährlich. Er wollte jetzt sofort an die Atlantikküste fahren, noch bevor es dunkel wurde. Er wusste nicht, wohin, aber er fragte, und der Verwalter antwortete lächelnd:«Wir haben auf Long Island ein eigenes Ferienlager, nicht weit von Rockaway. Unter der Woche ist es fast leer, fahren Sie einfach hin. Ich gebe Ihnen ein paar Zeilen an den Leiter mit – Sie schauen aus, als würde Ihnen ein bisschen Schwimmen guttun.»Er kritzelte etwas auf eine Karte.« Aber vergessen Sie nicht, Ihr Geld bei uns abzuholen», sagte er.
Die Sonne ging schon fast unter, als der Zug in den kleinen Bahnhof einfuhr, an dem Vance aussteigen musste. Alles, was er sah, waren ein Häufchen Holzhäuser zwischen gestrüppbewachsenen Sandhügeln und ein von Telefon- und Telegrafenleitungen durchkreuzter Himmel – der Blick glich dem über die Felder von Crampton. Der Mann am Bahnhof sagte, das Lager befinde sich etwas weiter unten an der Straße. Vance folgte seiner Weisung. Die Straße, wenig mehr als ein Sandpfad, verlief eine Zeit lang eben, vorbei an einer Kolonie aus Hütten und Umkleidekabinen, führte ihn dann aufwärts bis zu einer sandigen Hügelkuppe und ließ ihn dort oben allein, Auge in Auge mit dem Unbekannten. Vor ihm lagen weitere spärlich bewachsene Sandhügel, die zum bloßen Sand hin unmerklich abfielen. Der Sand weitete sich zu einem Strand, der sich endlos nach rechts und links zu erstrecken schien, und hinter dem Strand lag eine andere Oberfläche, ein unbekanntes Element, stahlgrau im trüben Zwielicht, und es atmete und wogte und schwankte vor und zurück und zerfetzte und zerriss eine weiße, schäumende Masse, die sich unablässig von dieser glatten Unendlichkeit löste. Vance stand da und staunte und spürte zum ersten Mal das Gewicht des Universums. Selbst der offene Himmel der Prärie, der sich auf allen Seiten bis zum Horizont neigte, geziert und gestützt bis hoch oben vom gewaltigen Gefüge der Sterne, schien nicht so riesig, so uralt, so unbegreiflich für den endlichen Geist wie diese Weite, die nicht ruhte und sich doch nicht bewegte, nur hin- und herwogte, rhythmisch und regelmäßig wie der Gang der Gestirne. Vance setzte sich auf einen kleinen Hügel und staunte und staunte, während die Dämmerung hereinbrach, dann kroch er im letzten Licht durch die Dünen bis zum Sand, erreichte die Steine am Strand, kniete sich dicht an das heranschäumende Rund und tauchte die Hände hinein, als wolle er sich ihm weihen.
VIERTER TEIL
16
Halo Spear hatte in einer Welt sich ständig ändernder Maßstäbe immer an ihren eigenen Werten festgehalten. Dieses und jenes war soundso viel wert, vielleicht eine ganze Menge, aber nicht mehr. So war es zum Beispiel gut, ja
Weitere Kostenlose Bücher