Ein anderes Leben
Wenn der Brief mit einem Text angekommen ist, wird dieser Text umgeschrieben und zurückgeschickt. Die Briefe landen in jeweils einem Ordner von zuletzt 750 Seiten, sie bilden das eigentliche Ausgangsmaterial; der Inhalt ist lustig, wahr, obszön, sehr interessant – sowie vollständig undruckbar. Daraus soll Theater entstehen.
Sie finden, dass die Zusammenarbeit funktioniert. Für sich allein schreiben sie beide ganz unterschiedlich. Satire können sie zusammen produzieren. Beide leiden unter dem Fluch des Liebseins, können aber gemeinsam schwärzere Seiten entwickeln. Der Ausgangspunkt ist totale Aufrichtigkeit, und dass immer das höchste Angebot angenommen werden soll, unerbittlich, wie bei Auktionen auf dem Lande; er entdeckt rasch, dass Ehnmark keinerlei Prestigedenken pflegt. Ein persönliches Urheberrecht für Ideen oder Textvorschläge soll es nicht geben, sie werden in einen gemeinsamen Topf geworfen und weißgewaschen, wie Geld, das aus Wirtschaftsverbrechen stammt, die zu dieser Zeit immer mehr zunehmen und in gewisser Weise zum Thema des Theaterstücks werden, das sie schreiben.
Sie geben ihm den Titel Chez Nous .
Das Stück wird zum Auftakt einer langen Reihe sehr medialer Konflikte, die auf verschiedene Weise beider Leben verändern. Sie wissen es noch nicht, als sie in ausgelassenem Leichtsinn und mit einer gewissen rohen Rücksichtslosigkeit dieses satirische Lehrstück über die Medienwelt schreiben, die sie beide so gut kennen.
Chez Nous wird im Sommer 1976 abgeschlossen.
Mit lobenswerter Schnelligkeit wird es vom Chef des Dramaten, Jan-Olof Strandberg, angenommen, der das ganze Starensemble des Theaters, mit Ernst-Hugo Järegård und Jan Malmsjö an der Spitze, aktiviert, und schon im November kommt es auf die große Bühne und wird zu einem Skandalerfolg, was unter anderem daher rührt, dass Matts Carlgren mit einer Klage droht. Er ist der Chef von MoDo und damit verantwortlich für die Stillegung eines Sägewerks in Bureå; im Stück fallen ein paar unvorteilhafte Worte über ihn, genauer gesagt, dass ein solcher Sägewerksschlächter nicht Vorsitzender des Schwedischen Leichtathletikverbandes sein dürfte. Dieser Sportliebhaber ist dadurch so tief gekränkt, dass er das Stück stoppen möchte, was wiederum mit Macht den medialen Stoppmechanismus auslöst, so dass fast nichts das Stück mehr stoppen kann; das Ergebnis ist, dass die Schlangen an den Vorverkaufsstellen noch immer kilometerlang sind, als das Stück im Frühjahr schließlich doch abgesetzt werden muss.
Sie erfahren zum ersten, aber nicht zum letzten Mal, dass fast nichts so lebenskräftig ist wie etwas, das dicht daran oder äußerst dicht daran gewesen ist, gestoppt zu werden. Der kleine Raum zwischen fast und gestoppt wird auf diese Weise zur erogenen Zone der Medien. Das Wort ›gestoppt‹ wird in der Folgezeit die drei Stücke, die sie zusammen schreiben, begleiten. Das erste wird beinahe gestoppt, das zweite wird gestoppt, das dritte stoppen sie selbst.
Die durch den Fall Chez Nous angestoßene erregte Debatte über Wirtschaftskriminalität und die Verantwortung der Medien zieht sich über ein Jahr hin; ein Vulkanausbruch der Entrüstung und Beteuerungen, dass von nun an alles anders werden soll und dass niemand in so infamer Weise schuldig ist, wie es im Stück beschrieben wird. Nach einem Jahr ist alles wieder still, und nichts hat sich geändert, alles ist wie früher, sogar noch schlimmer. Das ist lehrreich.
Nur einmal gerät er ins Wanken.
In einer live gesendeten Fernsehdebatte diskutieren sie mit dem Anwalt Henning Sjöström, der die MoDo-Truppen anführt, über das Stück. Dieser, einst ein prominenter Speerwerfer im Bureå IF und in der Nationalmannschaft und Siebzigmeterwerfer, fleht fast unter Tränen den Vereinskameraden Enquist und seinen Freund an, nur fünf Worte zu streichen, die für das Künstlerische ohne jeden Belang sind , worin er tatsächlich vollkommen recht hat; aber sie weigern sich natürlich, weil der Konflikt jetzt ein Prestigeniveau erreicht hat, wo ein Rückzug oder auch nur schonende Vernunft ganz undenkbar sind.
Es schält sich nämlich eine prinzipielle Frage heraus. Gewissermaßen im Konflikt mit der krassen Wirklichkeit.
Der Vorfall, der ihn ins Wanken bringt, wenn auch nur unbedeutend, vielleicht beinahe gar nicht, ist folgender: Nach der live gesendeten Diskussion kommt ein ungefähr fünfzigjähriger Mann zu ihm und erzählt, er habe zwanzig Jahre bei Bure Bolag gearbeitet,
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