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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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und deshalb vor ihr flieht, neigt er dazu, zu leugnen. Ihre hervorstechendsten Eigenschaften – die blitzschnelle Intelligenz, den Humor und den Widerwillen, sich von der Einsamkeit erdrücken zu lassen – überdeckt er im nachhinein mit Behauptungen darüber, wie sie war : Bibel und Melancholie. Auch die Kreativität versagt er ihr. Lieber eine Abwertung: »Jungmädchenprosa«, »Mathilda Wrede« und »kein einziger Rechtschreibfehler«.
    Er vermutet, dass es das, was er sucht, beim Vater gibt. Seine Mutter glaubt er zu kennen. Es ist also nicht die Mutter, sondern der Vater, der die Antwort auf die versteckte, aber entscheidende Frage hat: Wenn alles so gut ging. Wie konnte es dann so schlimm werden?
    Sein Vater kann sich ja im übrigen nicht verteidigen.
    Von ihr ist es nur die Musik.
    Es sind die Chöre in der Schule, und im »Heer der Hoffnung«, sowie der Kirchenchor in Bureå, wohin sie bei Wind und Wetter mit dem Rad fährt. Wenn nicht das Seminar in Umeå und der Traum, Lehrerin zu werden, so stark dominiert hätten, dann wäre vielleicht ein anderer Traum Wirklichkeit geworden, der Gesang! Der Gesang! Vielleicht die Oper!
    So kommt es nicht.
    Als er vierzehn ist, schenkt sie ihm ein Grammophon und drei Platten. Es sind Sibelius’ Finlandia , Schuberts Unvollendete und Haydns Trompetenkonzert . Was das sehr schöne Stück von Sibelius betrifft, hält sie zwei Interpretationen bereit, die sie vielleicht auf dem Seminar gelernt hat. Die erste ist, dass die Musik den Widerstandskampf abbildet, mit der abschließenden Dankeshymne für Finnlands Befreiung vom Zarismus. Die zweite – allgemeinere – Betrachtung ist die, dass die Komponistenlaufbahn dieses Sibelius schon in jungen Jahren vorzeitig endete, weil er trank, und deshalb nie seine achte Symphonie schrieb. Geriet man in den Alkohol, war es wie verhext.
    Als er nach dem Abitur nach Uppsala fährt, gibt sie ihm eine kleine Kassette mit der Aufnahme eines Konzerts in der Kirche von Bureå mit. Sie singt dort die Solostimme in – glaubt er sich zu erinnern – einem Stück von Haydn. Er weiß, dass sie eine sehr schöne Stimme hat, sie singt Sopran. Unzählige Male hat er im Bethaus seinen Onkel Birger Fahlmark gehört, wenn er beim Vortragen des Abendprogramms las: Punkt 5. Sologesang von Maja Enquist.
    Er hört die Kassette einmal und ist eigentümlich bewegt. Dann verliert er die Kassette. Er weiß nicht, wie es dazu kommt. Er kann sie nicht bewusst verloren haben. Oder doch?

Um Missionar oder Dichter zu werden, muss man einen Ruf bekommen und dann ausgesandt werden. Was die Missionare angeht, wird eine besondere Zeremonie abgehalten, wenn diese ausgesandt werden sollen. Auf jeden Fall für die in den Kongo. Er ist sicher, dass die gleiche Aussendung für jene gelten muss, die zu Dichtern berufen sind.
    Sich Dichter zu nennen, ohne berufen zu sein, oder im Bethaus den Segen als Ausgesandter erhalten zu haben, ist Selbstüberhebung. Ebenso sicher ist er, dass diejenigen, die schreiben, wie die Missionare von der Gemeinde berufen, ausgesandt und gesegnet werden müssen. Wagt aber trotzdem, probehalber ein Gedicht zu schreiben. Es lautet: » Der Winter ist geflohen, / der Frühling ist gekommen, / die Bäche plätschern um die Wette mit einand. / Jetzt wolln wir spielen und Murmeln kullern, / denn jetzt ist wirklich der Frühling im Land .« Er ist ziemlich zufrieden mit dem Reim, zeigt sein Gedicht aber nicht, sondern hebt es auf für einen Sammelband mit Umschlag, in der Hoffnung, noch mehr zusammenzubekommen, was er nicht bekommt, was seinen Verdacht bestätigt. Er fühlt ja, dass er nicht berufen ist.
    Der Verdacht wird sein ganzes Leben hindurch lebendig bleiben. Es ist wie mit dem Dorf, das geteilt ist. Er begreift es nicht, jemand in ihm ist berufen, aber wer ist dieser jemand? Der Totbruder oder er selbst? Und auf jeden Fall ist niemand in ihm mit Billigung der Gemeinde ausgesandt .
    Dagegen zeichnet er Karten. Zuerst ist es die Schwedenkarte. Er zeichnet auf Butterbrotpapier, das man auf die Schulkarte legen kann, die er hat; es ist durchsichtig, und es wird rein dokumentarisch.
    Er zeichnet auf dem Küchenfußboden im grünen Haus. Sehr bald beherrscht er Schweden und kann die Kartenunterlage weglassen. Schweden zu beherrschen ist ein großer Schritt, und er fühlt eine Art Freiheit.
    Er hat ein moralisches oder eher militärisches Prinzip bei der Gestaltung der Karten.
    Weil die Mutter laut aus dem Norran gelesen und ihm erzählt

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