Ein anderes Leben
gedauert.
Halb tot hatte der Vater ihn dort im Bett auf der Krankenstation in Bureå dem Erlöser anbefohlen und Fürbitte gehalten. Behauptete die Mutter. Es waren die letzten Worte des Vaters gewesen, und sie hatten dem Sohn gegolten, dem Erben. Und das schafft eine Verantwortung.
Der Sohn ist deswegen im nachhinein fast kritisch ihr gegenüber. Nicht einmal auf dem Totenbett ließ sie ihren Mann in Frieden mit ihrem Erweckungseifer! Wollte selbst da , dass er das Kind bekehrte! Der Vater hatte – sicher auf ihre Aufforderung hin! – dem Jungen, der jetzt gerade ein halbes Jahr alt war, zwei schriftliche Mitteilungen hinterlassen. Die eine lautete Per-Ola, werde Christ . Er hatte Schmerzen gehabt und war dann ohne Bewusstsein dahingedämmert. Aber er hatte mit der Hand auf die Innenseite des Gesangbuchs geschrieben, allerdings sah es zitterig aus. Dieses Zitterige machte es noch belastender.
Dann war er in den Himmel aufgenommen worden, und da war er jetzt.
Nicht dass man viel darüber erfuhr, wer er war. Eigentlich nur, dass er dort oben saß. Und die Brüder des Vaters erzählten ja hauptsächlich, wie lustig er gewesen war: Geschichtenerzähler, der Beliebteste in der Stauermannschaft, hübsch und gefällig auch gegenüber den Frauen, doch auf eine demütige Weise , die allen gefiel, aber dies stimmte ja nicht mit der Wahrheit überein, der Mutter zufolge.
War zwar nicht direkt falsch, aber es war unnötig, sich damit abzugeben.
Sie meinte, dass seine eigentlichen Charaktereigenschaften im großen Buch des Lebens aufgezeichnet seien, das wären die guten und frommen Eigenschaften. Ein guter Freund, treu und demütig. Zu Lebzeiten wurde er durch ihre dringlichen Fürbitten schon als frisch Verlobter auf Anhieb erweckt, das stand fest. Sie hatte dies praktisch ganz allein bewerkstelligt, und jetzt war er tot und heimgeholt.
Das mit dem Geschichtenerzählen und der Geselligkeit war sicher übertrieben. Wies in die falsche Richtung.
Das Kind wusste nichts vom Vater als dies: dass er auf jeden Fall erweckt war, und nicht erst auf dem Totenbett, sondern kurz vor ihrer Hochzeit. Es war unklar, wann genau er sich dem Erlöser angeschlossen hatte.
Aber bekehrt. Es hatte sie so froh gemacht.
Immer, wenn er im erwachsenen Alter gefragt wird, behauptet er fast monoton, dass er den Vater nicht vermisst.
Das Fehlen eines Vaters ist nur eine Stärke . Kein Steinsack voll Erwartungen. Er bedauert mit einem freundlichen Lächeln die vielen, die einen Vater hatten und deshalb nicht wissen, was Freiheit ist. Das ist der Standpunkt, den er einnimmt. Das Kind weiß jedoch nichts anderes über den »Vater«, als dass es ihn gegeben hat, und dass er gut war. Dass er heimgeholt ist und deshalb nicht berührt werden kann.
Aus unklaren, vielleicht rein dokumentarischen Gründen werden im Dorf immer Leichenfotos gemacht: Die Kamera hält die Leiche im Sarg fest. Das Dokument wird jedoch nicht auf den Kaminsims gestellt. Es wird mehr als etwas Besonderes aufbewahrt. Der Junge darf bei besonderen Gelegenheiten – vor allem an den großen Festtagen – das Leichenfoto des Vaters studieren. Ihm wird dann gleichsam unmächtig zumute. Wann ist es aufgenommen, fragt er bebend, war es, als er noch lebte? Nichts da, antwortet die Mutter, man muss erst sterben, bevor das Foto gemacht wird, du siehst doch den Sarg! Aber wann ist er zum Erlöser heimgeholt worden? Als er tot war, aber bevor das Foto gemacht wurde?
Sie findet seine Frage sonderbar.
Es ist so vieles unklar. Die Mutter wird leicht ärgerlich, aber das Kind versteht die Chronologie nicht: Erst starb man, dann wurde das Bild gemacht, dann wurde man heimgeholt? Aber dann musste er ja da in der Leiche liegen und warten, während sie den Fotoapparat holten? Die Mutter will aus irgendeinem Grund nicht antworten, wendet sich ab und geht. Er bleibt hartnäckig. Erst starb man, dann wurde das Leichenfoto im Sarg gemacht, dann wurde man heimgeholt . In der Reihenfolge? Falsch. Erst starb man, dann wurde man heimgeholt, dann wurde das Leichenfoto aufgenommen . Das Kind grübelt viel und studiert eingehend das Leichenfoto, das also nur die Hülle eines schon Heimgeholten zeigt!
Er ist gleichsam nicht mehr da.
Das Kind untersucht immer misstrauischer diese ganz und gar dokumentarische Fotografie der Hülle, die den heimgeholten Vater nicht mehr enthält.
Die Mutter spricht sonst nicht viel von dem Toten.
Sie besitzt ja das Kind, jetzt allein. Sie erzählt zwar mit Wohlwollen von
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