Ein anderes Leben
anderen ohne Mängel sind. Dies erfüllt ihn jedoch mit Entschlossenheit. Er glaubt zu ahnen, was die Substanz in ihm ist, er hat etwas zu erzählen, aber darum herum – Lücken!
Erst viel später lässt das Gefühl nach. Er versteht, dass fast alle fast genau so viele Lücken haben wie er selbst, und findet Trost.
Er liest, aber jetzt auf eine andere Weise.
Früher amerikanische Sozialrealisten wie Dos Passos und Steinbeck oder schwedische klinische Stilisten wie Söderberg und Dagerman. Jetzt lieber Nabokovs Fahles Feuer oder Burroughs’ Naked Lunch . Er verliert sich in der Formwelt des Romans. Ein Winter mit Finnegans Wake , die Entsprechung der Romankunst zur Sackgasse der abendländischen Kunstmusik, macht ihn nicht klüger. Aber die Kompassnadel dreht sich weiter. Eines Tages, als er bei der Mutter zu Besuch ist, findet er zufällig seinen Realexamensaufsatz. Er trägt den bezeichnenden Titel Ein Sportplatz und das Leben dort . Er liest ihn und entdeckt zu seinem Schrecken, dass er als Fünfzehnjähriger genauso geschrieben hat wie jetzt. Er fürchtet, dass die Aufsätze aus den ersten Klassen der Volksschule noch besser sind. Was hatte seine Mutter gesagt? ›Dass er gut schrieb‹ – oder war es nicht etwas mit einzigartigen Qualitäten gewesen? Aber wohin zeigt jetzt die Kurve. Abwärts? Er fürchtet, dass es manchmal nicht er selbst ist, der schreibt, er ist ein Echo . Was ist aber er selbst?
Er beginnt die isländischen Sagas zu lesen, aufs neue.
Gleichzeitig Askese. Wegen der Operation infolge seines Magengeschwürs, oder richtiger gesagt des Magnecylmissbrauchs, ist er zu völliger Enthaltsamkeit gezwungen. Kein Tropfen bis in die Mitte der sechziger Jahre. Er findet die Askese natürlich.
Später wird er sich an diese Jahre erinnern und erstaunt sein. Es war doch so einfach. Wie konnte etwas, das so schwer werden sollte, einmal so einfach gewesen sein.
Er ist mitten drin in den frühen sechziger Jahren, einem spielerischen Jahrzehnt, das sich später in ein politisches verwandeln wird. Der homo ludens wird zum homo politicus . Aber dahinter sind es dieselben Menschen.
Die meisten, mit denen er jetzt verkehrt, sind wenig schöngeistig, prinzipiell »vulgär«, lieben Comics und Popmusik, alles sophisticated auf eine Art und Weise, die Brillanz verlangt. Der Zeitgeist soll vulgärer hecheln. Gerade ›verunreinigt‹ ist das gewöhnlichste Wort. Weil es sich mit etwas in seinem eigenen ziemlich verunreinigten Geist deckt, ist er durchaus davon angetan. Warum sammeln sich eigentlich alle ausgerechnet hier in Uppsala? Ist dies wirklich der große Schnupperclub der Literatur? Gewisse Namen wie Sara Lidman oder Folke Isaksson kannte er ja. Aber woher kommen sie? Missenträsk und Luleå. Und woher kommt seine Generation?
Die Kinder der Provinz haben sich vielleicht an der Wasserpumpe in Uppsala verabredet, bevor es zur Prügelei kommt, um das Bild von Ulf Peder Olrog zu zitieren.
Der Vertrag für den Debütroman, der mit eintausend Kronen vergoldete, der ihm ein unbedeutendes Vermögen sichert, war die Eintrittskarte in eine neue Welt.
1960 macht er sein Magister-Examen und setzt sich sogleich an seine Lizentiats-Abhandlung in Literaturwissenschaft, die erst sechs Jahre später fertig wird. Ihm schwebt keine akademische Karriere vor. Nicht, dass ihm eine Zukunft als Studienrat in der Provinz verlockend erscheint, aber das Lizentiats-Stipendium von neunhundert Kronen im Monat trägt dazu bei, dass er Romane schreiben kann. Auf diese Art und Weise wird er ein fröhlicher wissenschaftlicher Parasit und zieht das Lizentiats-Studium in die Länge; als diese Rettungsleine nicht länger in Anspruch genommen werden kann, hat er vier Romane publiziert, und die Forscherwelt schweigt barmherzig. Sein Freundeskreis ist jetzt ganz neu. Björn Håkansson, Torsten Ekbom und Leif Nylén starten eine Zeitschrift, die sie Rondo nennen, er kann ein paar Artikel unterbringen, die er Essays nennt, und fühlt sich als Teil der subversiven Guerilla, die die herrschende kulturelle Klasse stürzen wird. Diese befindet sich in Stockholm.
Ohne es zu verstehen, sucht er nach den geheimen Kodes des Kulturlebens, die ihm noch rätselhafter erscheinen als die Rituale der Tempelritter.
Er spielt Tennis mit Leif Nylén, bevor dieser zum legendären Drummer der Prog-Gruppe Blå Tåget wird, die, im Licht der Geschichte betrachtet, das einzige bleibende Ergebnis der Faszination für Konkretismus, Popkunst und situationistisches
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