Ein anderes Leben
norrländische Dialekte noch bis nach dem Grubenstreik in Kiruna 1969 warten müssen, um einen hohen Status zu erlangen und dann junge eingeborene Stockholmintellektuelle zu verzweifelten Versuchen mit västerbottnischen Tonfällen zu zwingen.
Tunström hat alles, einschließlich echtes, wenngleich unpolitisches Värmländisch, und er liest phänomenal.
Alle jungen Studentinnen unter der gewölbten Decke lauschen wie verzaubert. Sie behalten noch die Kleider an, aber mental sind sie schon auf dem Weg; einige sitzen zu seinen Füßen auf dem Boden. Tunström ist ruhig und schüchtern und liest eine halbe Stunde aus diesem kleinen Roman, der bald ein Klassiker werden wird. Die Studentinnen jetzt mit offenen Mündern und so heftig atmend, dass ihre Brüste sich heben .
Nach Tunström kommt Lars Görling.
Görling hat eine andere Form von Berühmtheit erlangt. Er hat einen eiskalten und glänzenden Debütroman geschrieben, sein zweiter Roman heißt Triptyk , der dritte wird 491 heißen; dann nimmt er sich das Leben. Jedes literarische Jahrzehnt hat seinen Selbstmörder, der der vierziger Jahre hieß Dagerman, der der fünfziger Gösta Oswald, der der sechziger Lars Görling. Nein, Oswald ertrank nur, vielleicht.
Lars Görling war im Knast, warum weiß niemand.
Er liest ruhig und erschreckend, und das Publikum ist totenstill. Er kommt aus dem Nirgendwo und schreibt besser als alle, und seine Stimme hat etwas vollkommen Schwarzes. Seine Mundbewegungen sind schmal, aber der Text bleischwer, und zu seinen Füßen scharen sich keine Studentinnen. Er ist so jung und dünn, dass es wehtut.
Dann soll er selbst lesen.
Schon beim ersten Satz hört er, wie seine Stimme zittert, und er weiß, dass sie jeden Augenblick versagen wird. Dann wird es lächerlich. Er liest schneller. Zwanzig Minuten dauert der Alptraum. Ihm bricht der Schweiß aus, und plötzlich wird ihm klar, dass der Text, den er liest, nicht einmal den Ansprüchen der Zeitschrift des schwedischen Hundezüchtervereins genügen würde. Es ist eine Schande, und er liest noch ein wenig schneller, seine Stimme zittert immer heftiger. Er denkt, dass einmal das erste Mal sein muss, aber es darf auch gern das letzte Mal sein, und wenn alle Stricke reißen, hat er es auf jeden Fall versucht . Er erinnert sich an die Worte der Mutter im Tagebuch nach dem Tod des Erstjungen: dass ich auf jeden Fall einmal Mutter war . Noch ein Roman oder eine Lesung hiernach sind aussichtslos, aber er ist auf jeden Fall einmal Schriftsteller gewesen . Seine Stimme kaum noch hörbar. Er weiß, dass die Mädchen noch an Göran Tunströms Lippen hängen, obwohl diese jetzt reglos sind.
Er hält zwanzig Minuten durch und erntet gediegenen Applaus . Die drei jungen Autoren lächeln einander erleichtert an, es ist vorbei. Es ist auf seine Weise ein ausgezeichnetes Bild der Soziologie der jungen schwedischen Erzählkunst in den sechziger Jahren, in denen die Provinz alles ist und das Zentrum nichts.
Tunström aus Sunne, Görling aus dem Knast und er selbst aus Hjoggböle.
Was ist das für eine Welt, die sie jetzt schildern sollen?
Da er mit Sprache arbeitet, ist er wie viele andere in diesen frühen sechziger Jahren versucht anzunehmen, dass alles eine Sprachoberfläche ist. Diese Oberfläche ist unrein, und das ist das Verlockende. Die Unreinheit riecht nach Wirklichkeit, und vielleicht enthüllt sich die Wirklichkeit, wenn man mit der Sprache spielt. Wohin er sich wendet, taucht das Wort ›kneten‹ auf. Die Sprache soll geknetet werden. Die Popkunst geht auf wie ein gärender Teig. Dort draußen, verborgen von der gekneteten Sprache, herrscht die Erntezeit der Wohlfahrtsgesellschaft, aber das Wort Politik wird selten benutzt. Wenn es vorkommt, klingt es wie geknetete Sprachflächen im Klassenkampf miteinander. Ein sozialrealistischer Roman soll aus knetenden Textflächen im Kampf um die Buchstäbler bestehen.
Es ist verlockend und verspielt, doch in gewisser Weise fühlt er sich von sich selbst betrogen.
Dann schreibt er plötzlich, 1964, zwischen Magengeschwüroperationen und literaturwissenschaftlicher Forschung und, wahrhaftig, einer Hochsprungtournee in Israel, einen historischen Roman, der im 18. Jahrhundert spielt, Der fünfte Winter des Magnetiseurs , der ganz rein ist, fast blank gescheuert, als hätte seine innere Lötlampe alles ästhetische Wissen und jede Belesenheit fortgebrannt und zu etwas ganz unzeitgemäß Einfachem zurückgefunden.
Vielleicht ist er nur ein
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