Ein Bär im Betstuhl
Pastor schon immer für einen schlauen Kerl gehalten, und damit hatte er offen sichtlich Recht gehabt.
Mäkelä wollte stehenden Fußes lossausen, um einge trocknete Brunnen zu suchen, die sich für seinen Zweck eigneten. Der Pastor beschloss, ihn zu begleiten, denn die Sprechzeit war sowieso gleich zu Ende, und Termine hatte er an diesem Tag nicht.
Im Zentrum des Kirchdorfes gab es keine offenen Brunnen mehr, denn in den Siebzigerjahren war das kommunale Wasser- und Abwassersystem gebaut wor den. Aber außerhalb des Zentrums war die Situation anders. Bohrbrunnen eigneten sich nicht für sportliche Zwecke, aber es gab in der Gegend noch etliche der guten alten Schachtbrunnen. Die beiden Männer fuhren mit dem Auto des Pastors von Haus zu Haus und maßen mit der Wäscheleine die Tiefe der Brunnen aus. Die meisten waren zu eng, als dass ein kräftiger Mann darin eine Wurfdisziplin hätte ausüben können, in anderen stand auf dem Boden noch zu viel Wasser. Manche Hofbesitzer reagierten misstrauisch auf das Projekt, sie wollten die Bedeutung der Entwicklung neuer Sportar ten nicht anerkennen. Die Anwesenheit des Pastors half freilich, die Zweifel zu zerstreuen.
Nach zweistündiger Suche fanden sie einen geeigne ten Brunnen im Ortsteil Rekitaipale, sechs Kilometer vom Kirchdorf entfernt. Von dort war es gar nicht weit bis zu Mäkeläs Hof, sodass er nun die Chance hatte, seine neue Disziplin sogar jeden Abend zu trainieren. Der Brunnen hatte zweiundzwanzig Ringe, war also elf Meter tief, der Durchmesser der Ringe betrug hundert vierzig Zentimeter, und der Schacht verlief vollkommen senkrecht. Das Wasser stand auf dem Boden nur drei Ringe hoch, und es war ohnehin durch die Dunggrube verunreinigt, sodass es sich höchstens für die Bewässe rung des Gemüsegartens eignete. Mäkelä konnte den Brunnen also ab sofort als Trainingsstätte für den verti kalen Speerwurf in Betrieb nehmen.
Am nächsten Abend fuhr der Pastor, nachdem er im Bibelkreis einen Vortrag gehalten hatte, mitsamt seinem Bären nach Rekitaipale. Jari Mäkelä war zur Tat ge schritten: Neben dem Brunnen stand sein Traktor, mit dessen hydraulischem Frontlader eine aus Brettern zusammengebaute, stabile Wurfbühne in den Brunnen gelassen werden konnte, sie hatte hundertachtzig Zen timeter hohe Füße, sodass sie über der Wasseroberflä che blieb. Jari wurde von seiner Großmutter Sanna Mäkelä unterstützt, die auch für das Messen der Ergeb nisse verantwortlich war. Zunächst jedoch legte sie ihrem Enkel einen aus galvanisiertem Blech gefertigten Harnisch um die Schultern und reichte ihm einen Schutzhelm für den Kopf. Diese Maßnahmen sollten verhindern, dass der Werfer zu Schaden käme, falls der Speer aus irgendeinem Grunde nach seinem Flug in den Brunnen zurückfallen würde.
»Aber diese Disziplin ist lange nicht so gefährlich wie Boxen oder Eishockey, ganz zu schweigen von den Ren nen der Formel I.«
Jari stieg noch in eine Fischerhose, die bis unter die Achseln reichte, für den Fall, dass er durch die Wucht des Abwurfes ins Schwanken geriete und von der Bühne in das am Boden stehende Dungwasser fiele.
Mit fünf Speeren unter dem Arm stellte er sich nun auf die Wurfbühne, die seine Großmutter mit der Winde langsam und bedächtig in die dunklen Tiefen des Brun nens hinabließ. Dann schaltete sie den Motor des Trak tors aus und spähte nach unten. Von dort tönte es herauf:
»Kann ich werfen?«
»Leg los!«
Die alte Frau trat etwa zehn Meter vom Brunnen zu rück und richtete ihren scharfen Blick über die Brun nenöffnung hinweg auf die Dachrinne des nahe gelege nen Kuhstalls. Der Kulminationspunkt des Wurfbogens ließe sich leicht nach der Linie bestimmen, die zwischen den Augen der Großmutter und der Dachrinne verlief. Das Wurfergebnis konnte dann mithilfe eines auf dem Brunnendeckel platzierten Messstabes bestimmt wer den, zu der abgelesenen Zahl musste noch die Tiefe des Brunnens hinzugerechnet werden, und dann hatte man das genaue und in jeder Hinsicht amtliche Resultat. Die Höhe der Schuhabsätze des Werfers musste natürlich abgezogen werden.
Aus den Tiefen des Brunnens ertönte dumpfes Ge brüll, und durch die Deckelöffnung sauste ein Speer. Pastor Huuskonen staunte. Der Wurfbogen war wirklich prachtvoll, das Ganze wirkte sonderbar mystisch, so als wäre eine wilde, wortlose Botschaft aus dem Totenreich geschickt worden. Das scharfe Auge der Großmutter registrierte den höchsten Punkt
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