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Ein Band aus Wasser

Ein Band aus Wasser

Titel: Ein Band aus Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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eine Weile weiter. Mit jeder Minute, die verstrich, wurde es um uns herum heller. Ich konzentrierte mich auf Daedalus, doch der sanfte Klang der fallenden Blätter lenkte mich ab, verzauberte mich, lenkte meinen Blick auf den schwankenden Flug eines Blattes.
    Im nächsten Moment durchfuhr mich ein so durchdringender Schreck, als hätte jemand einen Eimer Eiswasser über mir ausgekippt.
    Mein Mund öffnete sich zu einem Oh. Rasch blickte ich umher, hierhin, dorthin, überallhin, und bekam mein Grausen bestätigt. Denn es waren keine Blätter, die da auf die Erde fielen – es waren Vögel. Überall um uns herum stürzten, einer nach dem anderen, kleine Singvögel von ihren Ästen, aus ihren Nestern, auf die Erde. Erschüttert begriff ich, dass die Magie, die mit jedem Herzschlag pulsierte, in Wirklichkeit die Kraft, das Leben, war, das diese Vögel an mich verloren. Jede neue Perle aus Licht, die in mir anschwoll, bedeutete den Tod eines weiteren Vogels. Und ich hatte mir seine Kraft einverleibt.
    » Daedalus!«, würgte ich hervor. » Daedalus! Irgendetwas stimmt hier nicht!«
    Es dauerte fast zwanzig Sekunden, bis er meine Worte registrierte. Langsam öffnete er die Augen, unterbrach den Zauber. Er sah ärgerlich aus.
    » Clio! Ist dir klar, dass ich jetzt noch einmal von vorne anfangen muss?«
    » Schau! So schau doch!« Ich deutete um uns herum. » Die Vögel … überall sterben Vögel! Da stimmt was nicht! Halt den Zauber an! Brich ihn! Wir haben etwas falsch gemacht!«
    Daedalus warf noch nicht mal einen kurzen Blick über meine Schulter. In diesem Moment begriff ich, dass er nicht erschrocken oder entsetzt war, ja, nicht mal überrascht. Genau das war der Zauber, den er mich gestern hatte lernen lassen. Ein Zauber, der Vögeln ihre Kraft nahm und sie uns einverleibte, während er die Tiere umbrachte.
    » Gute Göttin!«, schrie ich.
    » Clio, du musst jetzt nicht überreagieren«, sagte Daedalus etwas ruhiger. » Wir haben doch darüber gesprochen – das ist es, was du wolltest. Alles hat einen Preis, und du bist gewillt, ihn zu zahlen.«
    » Aber doch nicht diesen Preis!« Zehn, zwanzig, dreißig und mehr Singvögel, zu viele, um sie zu zählen, lagen wie verkrumpelte Taschentücher über die Erde verstreut. Ich kannte ihre Bezeichnungen, hatte sie als Teil meines magischen Repertoires erlernt. Carolina-Zaunkönige, Kleiber mit braunen Köpfchen, Spatzen, verschiedene Drosselarten und sogar kleine, zarte Ammern, bunt gefiedert wie Edelsteine und so selten zu sehen. Alle lagen sie tot um uns herum, wohin auch immer ich schaute, während noch weitere auf die Erde fielen.
    Tränen liefen mir aus den Augen. Während ich herzzerreißend schluchzte, stieß ich die Worte hervor, die jeden beliebigen Zauber, den ich anwandte, brechen konnten. Daedalus stürzte um das Feuer herum auf mich zu und packte mich wütend an den Schultern.
    » Hör auf!«, brüllte er. » Wie kannst du es wagen! Jetzt hast du sie umsonst sterben lassen! Wir brauchen ihre Kraft, um die Quelle zu öffnen! Das ist es doch, was du wolltest! Du verstehst das nicht! Du dummes Ding!« Er schüttelte mich so sehr, dass meine Zähne aufeinanderschlugen, doch es gelang mir, die letzten Sigillen in die Luft zu malen und die abschließenden Worte hervorzubringen. Dann war alles vorbei. Schönheit, Leben und Macht wichen von mir. Ich fiel wie ein Sack Schmutz auf die Erde.
    » Du verstehst es nicht«, schrie Daedalus erneut. Vor lauter Wut und Frustration schien er den Tränen nahe. » Du verstehst es nicht!« Er sank neben dem Feuer auf die Knie, fiel keuchend auf alle viere und versuchte, nicht zu weinen.
    » Nein«, erwiderte ich. Ich streckte mich auf dem Untergrund aus, als würde ich mich nie wieder bewegen können. Ohne die Magie schien die ganze Welt nur noch verwaschen grau schattiert. Ich fühlte mich dermaßen abgestürzt, dass ich nicht mehr wusste, ob ich menschlich, lebendig oder sonst etwas war. Doch ein Gedanke war mir gekommen, das letzte Teil eines Puzzles. » Du bist derjenige, der nicht versteht. Jetzt weiß ich, warum Cerise in jener Nacht gestorben ist.«
    » Was?«, krächzte er und hob mit Mühe den Kopf. » Wovon redest du? Sie ist bei der Geburt gestorben! Das ist damals vielen Frauen so gegangen.«
    » Nein.« Es gelang mir, den Kopf zu schütteln, obwohl er sich so bleiern anfühlte. » Du hast es nicht verstanden, du wolltest es nicht verstehen. Cerise ist gestorben, weil Melita sie umgebracht hat, um ihre Kraft zu erlangen.

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