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Ein Band aus Wasser

Ein Band aus Wasser

Titel: Ein Band aus Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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meine Liebe. Jetzt ist es nicht mehr weit.«
    Die Gegend schien mir zutiefst vertraut, da ich erst vor zwei Wochen hier gewesen war. Ganz zu schweigen von all den Visionen, die Thais und ich schon von diesem Ort gehabt hatten.
    Nun, dann mal los.
    Just bevor die aufgehende Sonne die Wolkenränder pink und orange erleuchtete, zogen wir unseren Kreis in den Aschering. Momentan war es beinahe kühl, aber später würde es wärmer werden. Um uns herum hatten ein paar Bäume ihre Blätter verloren, doch in der Hauptsache waren wir von Pinien und immergrünen Virginia-Eichen umgeben. Die Wälder sahen ein wenig ausgedünnt aus, wirkten jedoch nicht kahl.
    Wir verwendeten nicht so etwas Armseliges wie Kerzen. Stattdessen entfachte Daedalus in der Mitte des Kreises ein Feuer. Ich schloss die Augen und sang das Lied, das meine Kräfte freilegen sollte, vollkommen und ganz, die innere Essenz meiner selbst. Sogleich fühlte ich Daedalus’ Kraft, und gemeinsam sangen wir den überleitenden Teil, der beide Lieder miteinander verwob. Wir waren ein ungleiches Paar. Bei Thais und mir lief es irgendwie reibungsloser und unsere Lieder waren kaum voneinander zu unterscheiden. Doch Daedalus und ich waren zu unterschiedlich in unserem Sein. Ich war froh, dass wir das nicht allzu oft würden tun müssen.
    Erst gestern hatte er mir den nächsten Teil beigebracht, wo ich meine Kräfte mit der Natur um mich herum verband. Hier, umgeben von hoch aufragenden Bäumen, Blättern und Steinen, würde ich mir wie der unglaubliche Hulk vorkommen, wenn das alles hier vorbei war. Ich hatte mir die Laute gemerkt, erkannte jedoch gerade mal die Hälfte der Worte. Sie wirkten sehr alt auf mich, und während ich sang, merkte ich zum ersten Mal, dass ein dunkler Faden sie durchwirkte. Gestern war mir nichts aufgefallen, hatte ich nichts dergleichen gefühlt. Doch jetzt, wo ich hier war und die Worte ins Freie aussandte, brachte ihr dunkler Unterton meine innere Alarmanlage zum Schrillen.
    Das Warnsignal verstummte, und im nächsten Moment durchflutete mich ein Schwall von Energie, von Kopf bis Fuß, so wunderschön, so rein und so intensiv, dass ich schwankte, nach Atem rang. Licht und Kraft erfüllten meine Brust, breiteten sich in meinem Körper aus, als wäre ich zuvor leer gewesen und würde nun zum ersten Mal mit Leben und Sauerstoff gefüllt. Ich war von Ehrfurcht ergriffen. Das hier war hundertmal mächtiger und eindringlicher als alles, was ich zuvor erfahren hatte. Ich fühlte mich unfassbar ekstatisch und überwältigt zur selben Zeit.
    Ich öffnete die Augen. Daedalus stand mir mit geröteten Wangen gegenüber, sah gesünder und jünger aus. Er lächelte ein wenig, seine dunklen Augen leuchteten, und die aufgehende Sonne zeichnete seinen Kopf in einer goldenen Linie nach.
    Ich lächelte. Mit jedem Atemzug fühlte es sich an, als würde pures Licht in mich hineinströmen. Wenn ich die Arme hob, würde ich mich über den Erdboden erheben – möglicherweise. Wenn ich eine Knospe berührte, würde sie erblühen. Wenn ich mit der Hand die Erde streifte, würden schlafende Insekten erwachen, Samen vor lauter Leben aufplatzen und neue Pflanzen an die Oberfläche drängen. Ich hatte das Gefühl, für immer zu leben.
    Ich lachte, und Daedalus lächelte mir zu, sein Gesicht vom Feuer erleuchtet.
    » Es ist so hinreißend«, flüsterte ich. Meine Stimme klang wie nicht von dieser Welt, melodisch und in so vollkommenen Einklang mit der Natur, dass sie kaum noch menschlich anmutete.
    » Ja«, stimmte er sanft zu. » Macht ist hinreißend.«
    Hinter ihm segelten farbige Blätter zu Boden. Trotz des schwachen Dämmerlichts konnte ich sie deutlich sehen. Beim bloßen Gedanken an den Herbst, den Lauf der Jahreszeiten, den endlosen Zyklus aus Tod, Wiedergeburt und Wachstum, stieg Freude in mir auf. Überall um mich herum pulsierte Leben im Einklang mit meinem Herzschlag. Ich war verbunden, eins mit allem, in mir brandete Kraft auf, explodierte die Magie.
    » Lass uns jetzt die Quelle öffnen.« Daedalus’ Worte erreichten mich als Gedanke, als Gefühl. Bei dem Gedanken, in diesem erhabenen Zustand noch mehr Magie zu erschaffen, überkam mich ein neuerliches Hochgefühl.
    » Ja«, hauchte ich. Die Blätter, die von den Bäumen fielen, sahen aus wie Schmucksteine der Natur. Ich wollte die Hand ausstrecken und ein Blatt so leicht wie eine Libelle darauf landen sehen.
    Daedalus begann mit seinem Zauber, legte zuerst dessen Begrenzungen fest. Das Lied ging noch

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