Ein Baum wächst übers Dach
verwelkten Fliedersträußen vor dem Altar. Durch das helle Fenster hinter dem Kopf des heiligen Leonhard sah man einen abgeblühten Apfelzweig, der vielversprechend angesetzt hatte. Draußen grüßten mich die Schulkinder, weil das Schulfräulein sie gelehrt hatte, jeden Erwachsenen zu grüßen, und schmetterten ihr Grüß Gott so unvermutet in meine tiefen Gedanken, daß ich mich vor Schreck in die Zunge biß.
Im Juli sagten sich die ersten Besucher an. Sie schrieben eine Postkarte, etwa des Inhalts: «Freue mich schon schrecklich, Euch von Paris erzählen zu hören, komme dann am Mittwoch gegen Mittag mit einem Dampfer. Wenn keiner geht, nehme ich den Autobus von der Bahnstation.» Mama, die gerne gewußt hätte, ob sie mittags einige Arme Ritter mehr backen lassen sollte, oder ob erst zum Tee ein Kuchen nötig sein würde, schickte mich in solchen Fällen mit Papier und Bleistift zum Landungssteg, um die Ankunftszeiten der in Frage kommenden Autobusse und Dampfer herauszuschreiben. Der Dampferfahrplan war mit vier Reißzwecken an das altersgraue Holz des Bootschuppens genagelt und so schwer zu entziffern wie eine assyrische Keilschrift. Der Dampfer kam, mit Ausnahmen an Feiertagen und an Samstagen vor Feiertagen, bei schönem Wetter nur zwischen 15. Mai und 1. September und außerdem noch nach Bedarf. Wenn man sich durch Pfeile, Fußnoten und Daten hindurchgewunden hatte, ging man zum Fischer und klopfte dort an. Den Fischervater konnte man fragen, der wußte es nämlich. Er mußte bei jedem Anlegemanöver mit seinem Sohn hinaus auf den Steg und das Laufbrett halten, während der bärtige Kapitän dumpf durch das Messingrohr in den Maschinenraum hinunterraunte.
Beim Autobus war es einfacher. Man ersah aus dem Fahrplan klar und deutlich, daß der Autobus zwar zu den Dampfern pünktlich in Seeham eintraf, in der kleinen Kreisstadt jedoch die Bahnstation stets einige Minuten vor Eintreffen der großen D-Züge verließ. Die Einheimischen führten diesen Umstand auf eine alte Tradition zurück, die schon aus den Tagen des Prinzregenten Luitpold datierte: die jeweils älteste Insassin des Altweiberspitals durfte den Sommerfahrplan machen.
Lagen nach mühsamen Vorstudien endlich die möglichen Ankunftszeiten unseres Gastes offen zutage und wartete Anna der Igel mit den langsam erstarrenden Armen Rittern in der Küche, während wir im Wohnzimmer von Fenster zu Fenster liefen, dann kam der Gast erst nachmittags um fünf Uhr aus einer gänzlich unerwarteten Richtung. Er habe, so sagte er, das Fahrrad genommen, weil so herrliches Wetter sei. In der Hochsaison stand eigentlich immer einer von uns am Landungssteg Posten.
Bei diesen Gelegenheiten fiel mir allmählich auf, daß sich selbst bei uns auf dem Dorf etwas von der angebrochenen neuen Zeit spüren ließ. Drüben, jenseits des Sees, wurde die Autobahn gebaut, man hörte darüber allerlei Wunderdinge, und zwar sowohl positive wie negative. Statt der früher vereinzelt schlendernden Sommerfrischler und der wenigen Kinder, die Schnürchen und Wurm neben den dicken bemoosten Holzpfeilern ins Wasser hängten, stand nun oft schon, ehe die Rauchfahne auf dem aluminiumfarbenen See sich näherte, eine dicht gepackte, einheitlich wirkende Menschenmenge auf dem Landungssteg, die nicht wich noch wankte und geschlossen, fast im Gleichschritt, über das Laufbrett auf den Dampfer quoll.
«Dös san die Kraft durch Freude», sagten die Fischersleute geringschätzig. Gegen Ende der Saison waren sie, deren Haus dem Sammelpunkt der Volksgenossen am nächsten lag, gezwungen, bei der Gemeinde um die Erstellung eines öffentlichen Aborts nachzusuchen, weil bei ihnen die Klinke nicht mehr kalt wurde.
Etwa um diese Zeit wurden Mama und ich auf einem Spaziergang in bis dato einsamer Waldgegend von einer Gruppe Wanderer angesprochen. Die Männer marschierten in Hemdsärmeln und hatten an den Hosenträgern eine sinnige Vorrichtung, um den Hut dran aufzuhängen.
«Ach, entschuldigen Sie», sagte ein Mann auf sächsisch, «wo sind denn die anderen?»
«Welche anderen?» fragte Mama ebenso kühl wie erstaunt.
Es war unsere erste Begegnung mit dem Massenmenschen. Etwa vierzehn Tage später drangen Gruppen lärmender Volksgenossen in unseren Garten ein und ließen sich vor dem Haus fotografieren. Mama hatte für das Kompliment, das hierin lag, keinerlei Sinn und schaute entsetzt vom Balkon, während einige Männer, deren Stöcke von oben bis unten mit Stocknägeln aus Deutschlands schönsten
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