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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Gauen bedeckt waren, in unseren Liegestühlen Platz nahmen. «Kommen Sie doch runter und stellen Sie sich dazu», schlug einer freundlich vor, «das wäre doch nett.»
    Neben dem Milchhol-Gartentörchen hatte Bruder Leo im ersten Herbst einen Fahnenmast gesetzt, und an ihm flatterte, wenn wir Gäste erwarteten oder ein Familienfest feierten, aus purer Lebensfreude eine bayerische Fahne. Sie diente als Symbol unserer Liebe zu diesem Land der Berge, der Weißwürste und gemütlich blickenden Löwen. Nun mußten wir den Brauch aufgeben. Es durfte nicht mehr jeder eine Fahne hissen, wann er wollte, außerdem mußte es eine mit Hakenkreuz sein. Da meinte Mama, es sei vielleicht besser, wir zerschnitten die hübsche bayerische Fahne, säumten sie säuberlich und verwendeten sie als Gartendecke. Diese heitere Decke mit dem Rautenmuster hatte unerwartete Folgen.
    Eines Nachmittags um fünf näherten sich zwei nette Bauernmädel im Sonntagsgewand resoluten Schrittes unserer Veranda.
    «Wir möchten ein Bier», sagte die eine.
    «Das hab ich nicht», sagte ich fassungslos.
    «Dann halt eine Limonad», lenkte das Dirndl ein. Der zweiten schienen Bedenken zu kommen, sie zupfte die andere am Ärmel.
    «Ist das hier nicht das Café?» fragte die erste.
    «Nein», sagte ich abwehrend, «das Café liegt drei Minuten weiter oben im Dorf.»
    Die beiden entschuldigten sich und gingen davon. Ein andermal lag der Fauxpas nicht bei den Besuchern, sondern bei uns. Ein Auto fuhr vor und ihm entstieg ein Mann mit einem Waschkorb, aus dem weiße Spitzen quollen. Mama erhob sich verschlafen von der Couch im Wohnzimmer — es war drei Uhr nachmittags — , schaute zum Fenster hinaus und legte ihr Umhangtuch ordentlich zusammen.
    «Jetzt kommen die frechen Textilvertreter schon per Auto, es ist wirklich unglaublich. Kind, geh bitte hinaus und sage, daß wir nichts brauchen.» Ich kam nur bis zur Mitte der Veranda und der Mitte des ersten Satzes. Der Ankömmling war ein Freund, den wir jahrelang nicht gesehen hatten und der uns seine drei Wochen alte Tochter zur Ansicht brachte.
    Alle Besucher aber erzählten viel von der angebrochenen neuen Zeit, und wir waren gezwungen, uns zum erstenmal im Leben mit jenem Mann zu beschäftigen, der ein so häßliches Bärtchen trug und nun Deutschland regierte. In Paris hatte man uns häufig nach seinen wahren Absichten gefragt, und beschämt hatten wir gestehen müssen, daß wir darüber nichts wüßten. Unsere Rückkehr nach Seeham änderte daran natürlich auch nichts. Angesichts der weiten, schimmernden Wasserfläche und der Himmelsglocke darüber war es schwer vorstellbar, daß irgendwelche politische Einstellungen große Bedeutung haben könnten.
    Höflich interessiert hörten sich die Eltern die hitzigen Meinungen der Besucher an, die unweigerlich mit dem Satz schlossen: «Ihr habt ja keine Ahnung! Ihr wart zu lange im Ausland!» oder aber auch mit: «Kinder! Seid froh, euch geht der ganze Rummel nichts an. Ihr habt doch einen fremden Paß!»
    Ja, wir hatten einen fremden Paß. Seit zwei Jahren hatte ich sogar mein eigenes Paßbüchlein, und mein Foto klebte nicht mehr nur in dem von Mama. Wir waren niederländische Staatsangehörige, und das war, weil keiner von uns auch nur ein Wort Holländisch konnte oder jemals einen Fuß nach Holland gesetzt hatte, recht schwer zu begreifen. Besonders schwer für mich als Kind. In der Volksschule am Elisabethplatz hatte man mich gefragt:
    «Was isn? War dei Vatta net in Kriag?»
    «Nein.»
    «Nacha is er a Desertör!»
    Ich eilte nach Hause und fragte Papa aufgeregt und dem Weinen nahe, ob er Deserteur sei. Nein, erwiderte er gelassen, er sei holländischer Untertan.
    «Wieso? Ich denke, du und Großpapa und Urgroßpapa und alle waren immer in Rußland?»
    Ja, die Geschichte war kompliziert und sie lag weit zurück. Unser Urahn war Bürgermeister am Rhein gewesen. Er war ein großer Verehrer Napoleons und taufte seinen Ältesten auf diesen Namen. Eines Tages, eine ziemliche Weile nach der Schlacht von Waterloo muß es gewesen sein, kam ein Mann zu ihm in die Amtsstube, räusperte sich und teilte ihm mit, er habe jetzt bei den Preußen Militärdienst zu leisten — die Rheinlande seien preußisch geworden. Urgroßväterchen hielt von den Preußen nichts, auch war er ein großer, kräftiger Mann und jähzornig. Er öffnete das Fenster — die Amtsstube lag parterre — , nahm den Hiobsboten unter kurzer Zitierung unfrommer Sprüche um die Taille und warf ihn in den

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