Ein Baum wächst übers Dach
Garten. Er wartete nicht ab, ob aus diesem Fenstersturz abermals ein Dreißigjähriger Krieg entstehen würde, sondern entwich bei Nacht und Nebel über die Grenze nach Holland. Ein Gerücht will wissen, daß er so glatt hinüberkam, weil ihm ein Wilddieb hinüberhalf, gegen den er einmal großzügig verfahren war. In Holland blieb er genau lange genug, um holländischer Untertan zu werden. Dann ließ er Frau und Kinder nachkommen und machte sich auf zum fernen Rußland. Dank seiner Tüchtigkeit als gelernter Tuchweber wurde er dort bald reich. Auch sein Sohn taufte seinen Erstgeborenen auf den Namen Napoleon. Die niederländische Staatsangehörigkeit behielt er bei und nach ihm die Enkel und Urenkel, auch die in München, Oberbayern. Bruder Leo brauchte seinen Paß fast nie zu zeigen, wenn er eine Grenze zum zweiten Male überschritt. Die Grenzbeamten stießen sich bei seinem Anblick in die Seite und sagten, das sei schon wieder der, der zwei Meter lange Mensch, der Napoleon hieße, Holländer sei und in München wohne.
Mich hatte meine Staatsangehörigkeit bisher viel Zeit gekostet. Fragte mich jemand bei einem Essen: «Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, wie kommt es, daß Sie Niederländerin sind, wo doch Ihr Vater Russe ist...», so dauerte das Herbeten unserer verworrenen Familiengeschichte stets mindestens von der Suppe bis zum Braten mit Beilagen. Dabei hatte ich noch Glück, solange ich nicht auf einen ahnungslosen Enthusiasten stieß, der mich als einen «echt holländischen Typ» bezeichnete, oder mich gar auf holländisch anredete. In einem solchen Fall antwortete ich stets bayrisch.
Ich war keineswegs blind dafür, daß dieser fremde Paß mich bisher vor vielem bewahrt hatte, und bekam später Gelegenheit festzustellen, vor was allem er mich noch bewahren sollte. Zunächst jedoch sah ich ihn als eine Entschuldigung dafür an, daß ich mich so wenig um die deutsche Politik gekümmert hatte. Nun aber schien es an der Zeit, diese nur scheinbare Distanz zu überbrücken und mir einige Informationen bei den Einheimischen zu holen.
Ich wandte mich mit meinen Fragen zunächst an diejenigen Seehamer, die ich lange genug kannte. Sie waren sehr vorsichtig.
«Dös mehrere von dem Hitler-Sach is a rechter Krampf», ließ sich der alte Probstenbauer vernehmen. Dann schloß er den Mund, als wolle er ihn nie wieder öffnen, kramte ein gewürfeltes Sacktuch heraus und schnaubte seine Bedenken mit Getöse hinein.
Die jugendlichen und weiblichen Bewohner des Dorfes schienen unbefangener und positiver zu urteilen. In Berchtesgaden würde viel gebaut, ja, und das Torfmoor bei Tettenmoos würde trolc-kengelegt, das sei «bärig» und gäbe vielen Leuten Arbeit.
Daß «Nazi» plötzlich etwas anderes sein sollte als die Koseform von Ignaz, ging uns ebensowenig ein wie die Vorsilbe «Reichs-» und «NS-» vor vielen Bezeichnungen, die bisher ganz schlicht dahergekommen waren. Wir machten einen Sport aus diesem neuen Deutsch, und Papa sprach nun von «NS-Pilzsammlern» oder einem «Reichssuppenhuhn».
Anna der Igel, die in ihrem Individualismus so gut zu uns und dem Hause paßte, kam schüttelnd vor Lachen ins Wohnzimmer und versuchte auszusagen, draußen sei ein Mann, der wolle wissen, was wir am Sonntag gegessen hätten.
Seufzend ging Mama hinaus, um dieses offensichtliche Mißverständnis aufzuklären. Papa und ich schauten gespannt durchs Fenster und sahen Mama etwas verdutzt nach ihrem Portemonnaie greifen und dann etwas in eine Liste eintragen. Es handelte sich um die erste Eintopf-Sonntag-Spende. Ihr folgten noch viele, und wir gewöhnten uns daran.
Gewöhnen mußten wir uns auch an andere, näherliegende Dinge. Die Flitterwochen zwischen dem Haus und uns waren vorüber. Es ließ sich nicht leugnen, daß es gewisse Unarten hatte. Für den eigensinnig tickenden Holzwurm auf dem Klo konnte das Haus nichts. Warum aber ergoß sich bei jedem Regen dort, wo die Regenrinnen des Alt- und Neubaues zusammenstießen, ein kleiner Wasserfall auf die Verandastufen? Papa sagte, man solle diese Dusche nur ja nicht abstellen, denn gerade an der Stelle stünden immer die scheidenden Besucher so lange und holten mit einem «Was ich noch sagen wollte...» zu einem Epilog aus. Die ordentliche Mama aber schickte mich aus dem Mansardenfenster aufs Dach, wobei sie mich am Rock festhielt und «Kind, fall bloß nicht runter» sagte.
Siehe da, es lag nicht nur an den Rinnen selbst, sondern auch an den vielen welken Weidenblättern, die
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