Ein Baum wächst übers Dach
schrankenlosem Lebensgenuß hingeben. Für mich galt das wochentags ab halb sechs und die ganzen Sonntage. Leider gab ausgerechnet jetzt die Wirtin ihre Wohnung auf, und ich mußte mir in meinen freien Stunden ein anderes Zimmer suchen. Ich lernte dabei viele neue Berliner kennen, von Portiersfrauen, die mir ihre von Waschlauge feuchte Hand reichten und «Schulze, angenehm» dazu sagten, bis hinauf zu Regierungsrätinnen a. D., die mich hochmütig musterten und meinten, Damen nähmen sie nicht, die wüschen so oft. Ich blickte schuldbewußt auf meine Strümpfe und ging.
Eine ganz kurze Gastrolle gab ich in einem sogenannten intellektuellen Hause. Dabei lernte ich erkennen, daß Intellektuelle überall sehr reizvoll sind, als Zimmervermieter jedoch nicht. In meinem neuen Quartier wurde gebildhauert. Das von mir bezahlte Zimmer bildete eine Art Gratismuseum mißratener Porträtbüsten. Wenn ich nachts aufwachte, streiften die Scheinwerfer vorüberfahrender Autos die weißen Gesichter mit den toten Augen, die mein Lager umstanden, als läge ich schon auf dem Friedhof. Die eine Tochter schlief tagsüber und arbeitete nachts, wobei sie entweder das Radio brüllen ließ oder selber brüllte, da sie Rollen memorierte, in denen viel Mord und Totschlag vorzukommen schien. Eines aber war der ganzen Familie gemeinsam: sie wuschen nie die Wäsche. Alles, was schmutzig war, wanderte in die Badewanne. Ich habe den Tag, an dem die Wäsche des Hauses aufgebraucht war, nicht mehr erlebt, weil ich schon nach fünf Wochen auszog.
Ich zog in eine höhere Preislage. Sie war schön, aber sie machte es notwendig, daß ich mehr Geld verdiente. Schweren Herzens vertauschte ich das trauliche Nebenministerium und die entzückenden Chefs mit einem Industriepalast, in dem die schon einmal erwähnten Billardkugelköpfe mir zu diktieren hatten. Mama und Papa, die sich bei Verwandten in Schweden auf hielten, gratulierten mir, jeder auf seine Art, freudig bewegt. Papa fügte die Skizze eines von ihm entworfenen Räucherofens für die Fische des Vättern-Sees bei. Bruder Leo aber schrieb aus seinen Balkanwäldern: «Schreib in der neuen Stellung von Anfang an alles nur mit Gänsekiel. Das geht viel schwerer, und Du kannst daraufhin gleich ein viel höheres Gehalt verlangen!»
Auch ohne Gänsekiel schien mir mein neues Gehalt zunächst recht hoch. Doch meine Ausgaben holten es schnell wieder ein. Nebenbei versuchte ich für eine Schwedenreise zu den Eltern zu sparen, das ging sehr schwer.
«Mensch, Sie sind ja wahnsinnig, irgend etwas auf die hohe Kante zu legen», sagten die Kolleginnen, «kaufen Sie sich sofort drei Wintermäntel und zehn Paar Schuhe!» — «Aber die kommen ja aus der Mode, ehe ich sie tragen kann», meinte ich, versprach dann, es bei nächster Gelegenheit zu tun, fürchtete mich aber vor dem Gewühl in den Läden — es war Sommerschlußverkauf — und ließ es wieder sein. Lieber stellte ich mich bei Bote & Bock ans Ende einer Schlange, die auf Theaterkarten wartete, um Karajan «Die Pinien von Rom» dirigieren zu hören oder Gründgens’ rote Absätze in «Emilia Galotti» zu bewundern. Der Strudel der täglichen Kleinigkeiten verschlang die Zeit: schon wieder war Mittwoch, schon wieder Sonntag, schon wieder mußte ich das U-Bahn-Abonnement erneuern und mich beim Friseur anmelden.
Plötzlich, aus heiterem Himmel, wurde eine Verdunkelungsübung angesetzt. Nach dem ersten Schrecken versicherte mir jeder, daß dies kein alarmierendes Zeichen sei. Verdunkelungsübungen seien diesen Sommer in ganz Europa die große Mode. Die Schlagzeilen der Zeitungen waren demgegenüber ohne tiefes Ein- und Ausatmen gar nicht mehr zu verdauen. «Unverantwortliche Kriegstreibereien der Westmächte», hieß es da, oder «Der Führer warnt zum allerletzten Male». Nun, die Politik machten andere. Vielleicht ging es noch einmal gut, so wie im vorigen Oktober. — Früher, als ich noch mit langer Zipfelmütze auf meinem Schlitten hockte und nicht bremsen konnte, hatte ich mit dem gleichen Gefühl im Magen gehofft, daß drunten Erwachsene stehen und meinen Schlitten aufhalten würden.
Die finstere, riesige Stadt war, wenn man von der Vorstellung, in einen Abgrund zu schlittern loskam, sehr reizvoll. Belustigt ging ich durch die pechschwarzen Straßen, zählte Querstraßen, um zu wissen, wo ich war, verabredete mich mit Freunden, um im Dunkeln auf dem Kurfürstendamm Versteck zu spielen, und öffnete Ladentüren, deren Schilder nicht mehr zu
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