Ein Baum wächst übers Dach
«Kind, das weiß ich nicht. So nah bin ich nicht hingekommen!»
Als ich mich nun bedrückt verabschiedete, um in Berlin wieder um meine Existenz zu kämpfen, die hier unten zwischen den grüngoldenen Wiesen so leicht und selbstverständlich schien, sagte er zu mir: «Weißt, Kind, es ist schade, daß du nicht katholisch bist und beichten kannst. Ich mein, du sündigst dich dann droben gleich wieder leichter.» — «Ach, Onkel», sagte ich ehrlich, «ich hab droben niemand so Rechten zum Sündigen. Da wart ich lieber auf den Märchenprinzen.»
Wir standen an seinem langen Dahlienbeet. Die großen Blumenköpfe schwankten im starken Westwind, der See jenseits der Wiese warf Schaumkämme auf, die Berge waren sehr fern und dunkelblau mit scharfen Rändern. «Soso, auf den Märchenprinzen», sagte der geistliche Herr gedankenvoll und besah sich die Knospen der Dahlie Monarch of the East, «ein Märchenprinz kommt selten. Aber ausgeschlossen ist es natürlich nicht.»
Bruder Leo reiste ein Stück mit mir. Im Gang des Zuges und vor Lauschern sicher, sprachen wir von Ereignissen politischer und kulturschänderischer Art, die ich in Berlin zwar aus größerer Nähe miterlebte als andere, deshalb aber weder besser verstand noch verzeihlicher fand. Leo sah starr in die vorübersausende Landschaft hinaus. Er sagte nicht wie Mama, daß ich über die Politik unseres Gastlandes nichts zu befinden hätte, sondern brummte kurz: «Verfluchter Saustall das alles! Schau nur, daß du nicht mit deinem losen Mundwerk irgendwo in die Mühle gerätst. Du verstehst mich schon.»
Ich verstand ihn gut. Wir sahen beide so schwarz für die Zukunft unseres Gastlandes, daß die Fahrt geradezu düster verlaufen wäre, wenn nicht Leo an einer Station Gelüst auf ein Paar heiße Wiener verspürt hätte. Der Zug glitt schon langsam aus der Halle, da stand er immer noch am Büffet. «Leo!» schrie ich aus dem Fenster, «der Zug fährt ab!» Leo sah sich um, schwang sich auf das Trittbrett hinter einen Herrn, der ebenfalls zu spät daran war, und rettete sich und ihm das Leben dadurch, daß er den Herrn vermittelst seines Würstchenkartontellers energisch in den Waggon hinauf schob. Der Senf klebte nachher an der Hose des Herrn und wir wagten nicht, ihn darauf aufmerksam zu machen. Als Bruder Leo mit seinem Koffer ausgestiegen war und dem Zuge nachwinkte, fiel mir zum ersten Male auf, daß er nicht nur zwei Köpfe größer als der Durchschnitt der Bahnsteigbesucher war, sondern auch sowohl Papa wie Mama lächerlich ähnlich sah.
Wie anders doch Berlin roch und klang! Und wie vertraut es einem geworden war seit der ersten Ankunft. «Der Montag!» «Der Montag!» raunte der Zeitungsmann am U-Bahn-Ausgang. «Die neuesten Sportnachrichten.» In meinem möblierten Zimmer lagen die Zettel der Wirtin: Ich möge die Nummer soundso anrufen. Auch Nummer Soundso hätte nach mir gefragt. Ich nahm den Hut ab und lächelte. Auch dies war anders als das erstemal. Es würde schon werden.
Als ich wieder ins Büro fuhr, hatte ich noch immer ein klein wenig Karbolineum in den Handrillen. Es ließ sich selbst mit Bimsstein nur schwer entfernen.
Vor dem ersten Diktat blickte wohl der eine oder andere Chef aus den Akten auf und fragte zerstreut: «Haben Sie sich gut erholt? Sie wohnen, glaube ich, an einem oberbayerischen See? Da muß es jetzt schön sein.»
5
Wer lernt schon aus seinen Fehlern? Die wenigsten. Kaum in Berlin, fing ich wieder an, mein Licht an beiden Enden zugleich anzuzünden. Tags rannte ich im Sturmschritt mit dem Stenoblock zwischen den Chefs hin und her, die ruhig auch einmal fünf Minuten hätten warten können, ohne daß der deutsche Außenhandel zusammengebrochen wäre, und nachts saß ich in Konzerten, Theatern und Bars, anstatt früh ins Bett zu gehen. Seltsamerweise mahnte mich nun niemand mehr daran, auf meine Gesundheit zu achten. Selbst die Tanten meinten lachend, der Schlaf vor Mitternacht sei nicht so sehr der gesündeste, als vielmehr der kürzeste. Ich solle meine Jugend nur genießen, man könne nie wissen. Politisch sähe es ja weiß Gott nicht gut aus. Eine neue, unruhige, ja hektische Note war in den Alltag gekommen. Das Wort Krieg wurde vermieden, aber es lag wohl allen auf der Zunge. Als der Mann mit dem häßlichen Schnurrbärtchen sich mit Chamberlain traf und alles noch einmal gut vorübergegangen war, atmete jedermann so erleichtert auf, daß die Deckenlampen ins Schwingen gerieten. Man konnte sich wieder
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