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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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auf der Treppe schlecht. Ich mußte stehenbleiben und mich am Geländer festhalten. Auf fragende Blicke deutete ich an, ich hätte mir den Knöchel angeschlagen. Als sich alles verlaufen hatte, stieg ich die Treppe hinauf anstatt hinunter und trat vom obersten Stockwerk aus auf den Dachgarten. Ich sah die Taubenschwärme die rußigen Kamine und die blechbeschlagenen Dächer umkreisen, in der Sonne aufleuchten und sich wieder niederlassen und redete mir unaufhörlich zu, mich doch zusammenzunehmen. Was sollten denn diejenigen sagen, die nun wieder ihre Männer, Söhne und Brüder würden opfern müssen? Als ich den Tauben lange genug zugeschaut hatte, war ich auch überzeugt, daß den deutschen Städten nichts passieren konnte. Die Flak war ja jetzt so fabelhaft.
    Ich hatte mich wieder völlig in der Gewalt, als der Betriebsblockwart nach mir schickte und wissen wollte, ob er mich, die neutrale Ausländerin, eigentlich zum Luftschutz einteilen könne. «Nein, natürlich nicht», sagte ich höflich und verhältnismäßig heiter, «das wäre doch viel zu gefährlich. Ich könnte ja dem Feind Lichtsignale geben.»
    Der Blockwart rückte an seiner Brille und fragte, wie ich das meine. Dann sagte er, daß es vielleicht wirklich nicht ginge. So entrann ich glücklich dem Felde der Ehre, dem Gemeinschaftserlebnis und den Ziehharmonikapritschen im Betriebswachraum.
    Keine Stunde später waren — woher nur? — über allen Schreibtischen Landkarten an der Wand, und einige übereifrige Sekretärinnen begannen Stecknadeln hineinzustecken. Da kein Mensch daran dachte, etwas zu diktieren, ging ich auf die Toilette, schloß mich ein und las Hölderlin.
    Auf dem Nachhauseweg um fünf Uhr sahen alle Leute aus wie immer, keiner machte ein verbissenes, keiner ein begeistertes Gesicht. Zu Hause lag ein Telegramm von Mama aus Schweden, Papa und sie seien auf der Heimreise nach Seeham begriffen, ich solle mir keinerlei Sorgen machen. Ich war nicht einen Augenblick erstaunt, daß sie nicht droben blieben. Sie konnten es aus dem gleichen Grunde nicht, der mich in Berlin gehalten hatte. Das, was Mama in so distanzierter Weise als unser Gastland bezeichnet hatte, war unsere Heimat, mit der wir standen und fielen, ganz gleich, was wir einem Blockwart darüber mitteilten. Das bürgerliche Beharrungsvermögen, die Anhänglichkeit an die gewohnte Stehlampe und den gewohnten Winterpaletot, die einen zu Beginn eines fürchterlichen Krieges an weittragenden Entschlüssen hindern, erscheinen einem erst viel später unerklärlich.
    Von Stund an schoben sich die Ereignisse kaleidoskopartig ineinander. Zuerst dachte ich: Wenn das nur gut geht. Nach einer Weile dachte ich: Es wird schon gut gehen. Und nach etwa einem Jahr dachte ich sogar: Na also, es ist ja ganz gut gegangen. Fast alles lief weiter, erstaunlich unverändert, nur in der Philharmonie weinten außer mir jetzt noch andere Leute. Aber das waren Kleinigkeiten. Vor den großen Dingen, die schon damals durchaus keine Kleinigkeit mehr waren, schloß ich die Augen, so gut ich konnte. Die Maschinerie, in die hineinzugeraten mich Bruder Leo so ernst gewarnt hatte, war gefährlicher und tückischer denn je, da nun jede unvorsichtige Äußerung als Hochverrat ausgelegt werden konnte.
    Als in Holland einmarschiert wurde, machte ich einen Tag lang ein dummes Gesicht, aber keiner unter den Kollegen wußte die Geschichte vom Urgroßvater und dem Wilddieb — so unterblieben jegliche Kommentare. Vom 10. Mai ab mußte ich jeden Mittwoch um halb fünf Uhr nachmittags zum Polizeirevier meines Stadtteils gehen und mich handschriftlich in ein Buch eintragen, als sei ich ein prominenter Besuch. Man schien der Ansicht, dies sei eine sichere Methode, die Machenschaften einer Holländerin im Auge zu behalten. Nur einmal fragte ich den Beamten scherzend, ob ich nicht in der dazwischenliegenden Woche vielleicht etwas anstellen könne. Der Wachhabende biß noch einmal ins Wurstbrot, 150 blinzelte freundlich und sagte mit vollem Munde, das glaube er nicht, und wenn, so ginge es ihn nichts an.
    Der Krieg ging einfach immer weiter. Es sah auch nicht so aus, als ob er bald aufhören würde, obgleich man bei den Fanfaren zur Sondermeldung jedesmal nur aus diesem Grunde hoffnungsfroh die Ohren spitzte. Viele Bekannte wurden eingezogen, wenn auch nicht alle in Uniform. Manche verließen nur den Industriepalast und bezogen einen Schreibtisch in einem Amt. Unser Konzern war sehr besorgt um uns, und wir bekamen vor der

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