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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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erkennen waren. Mein Gedächtnis trog, der Milchladen war doch weiter oben, dies war das Korsettgeschäft! Die Leuchtplaketten an den Mantelaufschlägen der Passanten glimmten nur schwach: Wilmersdorf war von fahlen Glühwürmchen bevölkert. Die Autos sahen aus, als hätten sie eine Augenkrankheit. Ein paar Stunden lang machte es Spaß, dann vergaß ich die Spielregeln und lüftete meine Zimmer, ohne das Licht auszuknipsen. Keine fünf Minuten später wurde meine Wirtin durch das Auftreten einer Gruppe energisch blickender SS-Männer beunruhigt, die an der Tür klingelten und forderten, daß besser verdunkelt würde.
    Die letzte Seite der Illustrierten war voller Witze über Leute, die weder Badewanne noch Ausguß mehr benutzen konnten, weil sie tausend Rollen weißen Zwirn gehamstert hatten. Daher genierte man sich, mehr als ein Paar Strümpfe zu kaufen. Wenn die Lage ernst wurde, konnte man sich ja immer noch schnell das Nötigste besorgen. Dann war plötzlich ein unbekannter Mann an der Wohnungstür, den ich noch nie gesehen hatte, der Blockwart. Sein Titel rief mir unangenehme Assoziationen an den Strafvollzug des späten Mittelalters wach, wo man die Leute in den Block schloß. Er aber sah ganz harmlos aus und trug einen Stoß buntes Papier in der Hand. Ob sich in der Zahl der Wohnungsinhaber etwas geändert habe, fragte er und begann die bunten Papiere zu zählen. Es waren die neuen Lebensmittelkarten. Obwohl ich wußte, daß ich nun mitgefangen und mitgehangen war und die zwingende Folgerichtigkeit dieser Tatsache erkannte, machte ich noch einen feigen Versuch, mich hinter Urgroßväterchens Paß zu verkriechen. «Ich glaube», stammelte ich, «ich brauche so etwas nicht. Ich bin Ausländerin.» Der Blockwart befeuchtete den Daumen und zählte mir meine Portion zu. «Det hat nischt zu sagen, Frollein», meinte er gelassen. «Essen müssen wir alle.»
    So war es denn zu spät für den Zwanzigpfundeimer Honig, den ich immer hatte kaufen wollen. Und gerade jetzt gingen auch meine braunen Halbschuhe kaputt. Ohne Bezugsschein gab es plötzlich nur noch Sandalen. Einige Freundinnen, denen es ähnlich ging, trösteten sich und mich damit, daß dieser Zustand nicht lange anhalten könne. Vielleicht käme es nicht zum Schlimmsten, und wenn doch, so könne ein Krieg mit diesen modernen Waffen ja höchstens ein halbes Jahr dauern. So lange hielten unsere Schuhe bestimmt noch.
    An einem Augustvormittag stand ich mit einem Freund auf dem Berliner Funkturm und sah auf die Ostwestachse und die vielen angefangenen Prachtbauten, die herrlichen Sportstadien und Plätze nieder. Das Herz war uns so eng und klein wie eine Haselnuß. Strahlender Sonnenschein erleuchtete die Straßen bis in alle Winkel. Sympathische, humorvoll tapfere Leute wimmelten stecknadelgroß darin herum. Es war unfaßbar, daß sie plötzlich gefährdet und bedroht sein sollten. Der Freund lehnte sich auf das eiserne Geländer. «Ich kann nicht glauben, daß der Mann das alles aufs Spiel setzt», sagte er. Wir wußten beide, wer und was gemeint war.
    Am Montag rief mich im Büro ein Vetter an, der von Paris kam und nach Schweden heimwollte. Ob ich ihm etwas für meine Eltern mitzugeben hätte? Ich fuhr auf den Stettiner Bahnhof, wo noch viele, viele Schweden fröhlich und laut abreisten. Der Vetter zog mich in eine Ecke voller Gepäckkarren. «Mußt du unbedingt hierbleiben?» fragte er. «Heut nacht wären wir draußen.» Ich schüttelte den Kopf. «Ich kann nicht weg», sagte ich beklommen. «Ich muß meine Arbeit weitermachen.» Der Vetter wühlte in der Tasche seines Mantels und zog ein Pariser Omnibusbillett heraus. «Hier», sagte er, und drückte es mir in die Hand, «wenn die Franzosen Berlin erobern, kannst du gleich darauf fahren.»
    Als der Zug aus der Halle glitt, blieben außer mir nur wenige Personen und viele Gepäckträger auf dem leeren, staubigen Bahnsteig zurück. Ich schluckte mehrmals trocken und wies das Bild von den Ratten, die das sinkende Schiff verlassen, weit von mir. Noch immer war Hoffnung. Wenige Tage später saß die Belegschaft meines Industriepalastes am hellen Vormittag im großen Sitzungssaal untätig zusammen und ein Lautsprecher verkündete nach viel Marschmusik, daß seit heute morgen in Polen zurückgeschossen würde. Ich hätte gerne geweint, es kitzelte mich schon fürchterlich in der Nase. Es gelang mir jedoch, genauso nichtssagend in den Schoß zu schauen wie meine Kollegen. Nach dem allgemeinen Sieg-Heil wurde mir

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