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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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die in einem uns ungewohnten, altmodischen Stadtteil lag und die nur unterzumieten war, begannen meine Kämpfe, um aus der Front der Arbeitenden auszubrechen. Heiraten, das konnte jeder, aber aufhören zu arbeiten, das war etwas anderes. Ich war enttäuscht und zornig, daß mein holländischer Paß mir plötzlich diese Schwierigkeit nicht mehr aus dem Wege räumen konnte, und dachte keine Sekunde daran, daß ich binnen kürzester Zeit sowieso einen deutschen Paß haben würde.
    Diese Kämpfe fanden eine charmante Unterbrechung in der Begegnung mit jener Familie, in deren Stammbaum ich dereinst als Ahnfrau auftreten würde. Es war eine stattliche Schar, die ich da ins Herz zu schließen hatte, und sie fanden sofort alle darin Platz. In der Wärme ihrer spontanen Zuneigung ging ich auf wie die gefalteten japanischen Papierblumen in der Muschel, die man in ein Glas Wasser wirft. Als ich bräutlich scheu aus dem Auto stieg, das mich von der Bahnstation zum Gutshause gefahren hatte, und die ersten Treppenstufen erklomm, sagte eine meiner künftigen Schwägerinnen: «Wir haben uns hier aufgestellt, damit du gleich alles auf einmal hinter dir hast!»
    Es wurden entzückende Tage. Ich vergaß schon nach der ersten Mahlzeit, mich gerade zu halten und nur zu sprechen, wenn ich gefragt wurde. Mein Haar bürstete ich allerdings abends länger als sonst. Michael, der sich aufspielte, als hätte er mich erfunden, verkleidete sich mit grünen Joppen und hohen Stiefeln, um mit mir Waldspaziergänge zu machen. Es gab Gutshof und Tiere, Nichten und Neffen, die man auf Erbmasse und Ähnlichkeit prüfen mußte, Teestunden in Biedermeiermöbeln und Gruppenaufnahmen. Ja, man zeigte mir sogar das gewisse silberne Kinderbesteck mit Schieber, mit dem schon Michael gegessen hatte und über das ich tiefer errötete als über den gewagtesten Witz in Berlin, wo man bekanntlich die jungen Mädchen aus der Provinz mit jedem Mittel abzuhärten sucht. Am Abend kam einer der neuen Schwäger und berichtete freudig, er habe einen Überläufer geschossen. «Fein!» sagte ich anerkennend. Ich erfuhr erst viel später, daß es sich nicht um einen Rehbock aus dem Nachbarwald, sondern um ein jüngeres Wildschwein handelte.
    Der Krieg entschwand fast gänzlich aus meinem Bewußtsein. Die Alarme hatten aufgehört. Der Mann mit dem Bärtchen verkündete, vor Erregung fast kreischend, daß er nunmehr in Rußland einmarschiere. Alle Leute hofften, daß es damit auch so schnell ginge wie mit Polen und Frankreich.
    Die Kette, die mich an meinen Arbeitsplatz band, war endlich durchgefeilt. Meine letzten Berliner Wochen schmolzen zusammen. Ich trug alle alten Flaschen in die Geschäfte zurück, auch die Milchflasche, mit der ich immer die Magermilch geholt hatte, und kündigte bei der frommen Frau März. Sie hatte wohl düstere Lebenserfahrungen hinter sich, denn sie entließ mich mit den Worten: «Jeheirat’ is schnell. Aber dann...» Unumgänglich waren die Besuche bei den Verwandten, die es über meine Zukunftsaussichten zu beruhigen galt. Während Michael mit mir das Treppenhaus erstieg oder im Lift aufwärts schwebte, raunte ich ihm die nötigen Einzelheiten zu: «Also, Onkel Willy ist der zweite Mann von der Cousine von Mama. Das Bild auf dem Flügel ist sein verstorbener Sohn aus erster Ehe.»
    Meist bekamen wir Malaga und etwas angestaubte Plätzchen. Überall aber trat ein Effekt ein, der mich an des Onkels Bemerkung über die Fleischerhunde denken ließ: Nach anfänglicher Befangenheit schlossen meine Verwandten Michael geradezu hitzig ins Herz. Ich war vergessen und mir selbst überlassen und betrachtete einstweilen die Topfpflanzen.
    Die Verwandten berichteten ausnahmslos nach Seeham, und so erhielt Mama die ersten objektiven Berichte über die Person ihres künftigen Schwiegersohnes. Eine Tante schrieb: «Meine Liebe, ich habe zwar nicht die Absicht, Deine Tochter herabzusetzen, die ja gewiß das Beste verdient, aber ich muß schon sagen, sie hat phantastisches Glück gehabt.» Dieser Passus löste bei Mama tiefe Befriedigung aus.
    Als ich meine heimatlichen Fluren wiedersah, war es Sommer. Die Flak ballerte noch immer nach ihrem Luftsack, auch der Ausbilderstab war noch der gleiche, aber die Männlein, denen man das Zielen beibrachte, wechselten häufig. In einigen Höfen Seehams gab es ledige Flak-Kinder, aber ihr Prozentsatz war gering. Die wackeren Mannen hatten vor ihrer Baracke ein Kleinstdenkmal aus Seehamer Urgestein aufgestellt. Der Adler, der

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