Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
Vom Netzwerk:
sich darauf an das Hakenkreuz klammerte, sah ebenso mißmutig aus wie sie.
    Diesmal mußte ich beim Radeln oft scharf und quietschend bremsen, weil sich mir Dorfbewohner mit Zeichen lebhaften Interesses näherten: Sie heischten Auskunft über Michaels Nam und Art.
    Das Wiedersehen mit der Nachbarin war schmerzlich: Zwei ihrer Buben waren gefallen; der Krieg sollte sie noch zwei weitere kosten, aber das wußte sie gottlob noch nicht. Es waren großartige Buben gewesen, stets vergnügt und fleißig. Kein Wort des Vorwurfs gegen die Regierung kam aus ihrem Munde, aber Tränen liefen ihr in die alten, faltigen Mundwinkel. «O mei, was werd nur dös no all’s wer’n», klagte sie, «man möcht den Toten neidig sein!» Dennoch warf sie den Kühen auf die Minute pünktlich das Futter vor und setzte zum aberhundertsten Male mit einem malerischen Schwung ihrer altmodischen Röcke den Brunnenschwengel vor der Tür in Bewegung.
    Der Krämer, der nur noch Schaupackungen im Fenster hatte, fragte mich mit professionellem Bedauern in der Stimme, ob ich denn jetzt für ganz nach Berlin zöge. Ich kaufte bei ihm ein Doppelheft für zwanzig Pfennige, verzierte es auf der ersten Seite mit einer schönen schraffierten Brezel und trug von Seite eins bis achtundzwanzig alle Rezepte ein, die mir von Großmama, Mama, Anna dem Igel und der Huber-bäuerin die besten dünkten. Ich mußte diese Tätigkeit oft unterbrechen, denn mir fiel andauernd etwas ein, das einen neuen Brief nach Berlin rechtfertigte, obwohl der letzte am selben Vormittag abgegangen war. Der Postbote, der Michael zu betreuen hatte, wurde fast wahnsinnig wegen den immer wechselnden Abkürzungen der Vor- und Zweitnamen, die ich auf die Kuverts setzte.
    Der Wald war so schön wie immer — schon gurrte die übernächste Generation von Waldtauben in den Wipfeln. Bei stundenlangem Beerensuchen wiederkäute ich wie eine glückliche Kuh alles, was mir in Berlin begegnet war, ja, ich modelte sogar um, was er gesagt hatte, als ich das gesagt hatte, nachdem er dies gesagt hatte, wie das bei einseitiger Durchblutung gewisser Gehirnpartien vorkommt. Die Beeren waren reif und dufteten herrlich. Jede von ihnen war wichtig und bedeutungsvoll als Teil von etwas Einzukochendem, das uns über den ersten gemeinsamen Kriegswinter helfen sollte.
    Papa malte an einem großen, für unsere neue Wohnung bestimmten Bild. Es zeigte die mir vertraute Bergkulisse jenseits des Sees im ersten Morgenlicht eines Sommertages, der heiß zu werden versprach. Die hellen, durchsichtigen Wolken, die wie Rauch aus den Gipfeln aufgestiegen schienen, würde die Sonne bald aufgefressen haben. Das Bild hatte den Duft und die Weite Bayerns und war, wie alle Landschaftsporträts, die Papa malte, ohne den gewissen «fremden Zug», den die Angehörigen eines Porträtierten stets zu erkennen glauben.
    «Man möchte gleich Bergschuhe kaufen, wenn man es so ansieht», sagte ich.
    «Oder hinausrudern aufs Wasser», meinte Papa und wischte etwas Krapplack in sein Taschentuch. «Du könntest mir übrigens ein paar Koppen als Köderfische fangen. Ich will es doch noch einmal versuchen heute nachmittag. Aber vergiß nicht in deiner bräutlichen Verwirrung, Wasser ins Eimerchen zu füllen, sonst verrecken sie nämlich.»
    Als Papas Boot so weit abgelegt hatte, daß es sich in dem metallisch glitzernden Sonnenstreif aufzulösen schien, ging ich zur Gemeinde, um mein Aufgebot zu bestellen.
    Der Gemeindeschreiber und ich begrüßten einander laut und herzlich. Seit Jahren hatte er uns manchen Formularkram durch einen Federstrich erleichtert. Es war sogar vorgekommen, daß er Papa eine neue Angelkarte mit den Worten ausstellte: «Aa was, die da droben können mi... ich schreib Staatsangehörigkeit Deutsches Reich. Zwegn dem werd der Flerr Papa aa net mehra Fisch fanga.» Bei der Angelegenheit jedoch, die lebenslänglich dauern sollte, prüfte auch er alles äußerst genau.
    An diesem Tage war ihm schlecht. Selbst sein sonst so reines Amtsdeutsch litt darunter. «Geboren, ja dös hab i scho. Mei, wissen’s, so schlecht is mer’s scho lang nimmer g’wesen. Gestern sag i zu meiner Frau, der Ochsenschwanz, sag i, der is nix. Gib’n her, sagt mei Frau, i trag’n z’ruck. Naa, naa, sog i, so schlimm is’ aa wieder net. Und jetzt is’ mer’s so schlecht drauf wor’n. Also jetzt die Daten von Ihrn Herrn Breitigam. An Mag’nbitter hob i scho g’nomma, aber er hat nix g’holfen. Und wo mei Frau no sagt, sie tragt den

Weitere Kostenlose Bücher