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Ein Berliner Junge

Ein Berliner Junge

Titel: Ein Berliner Junge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Damaschke
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langweilig, und die Eltern waren so schwach nachzugeben, was ich später oft bedauert habe. Was hätte es einem gesunden Jungen, der den Tag frei hatte, geschadet, wenn er ein Jahr oder zwei fest zum Lernen gezwungen worden wäre, und wie mannigfachen Vorteil hätte ich in meinem Leben von einer Grundlage in der lateinischen Sprache unmittelbar und mittelbar haben können!
     
     
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Vaters Krankheit
     
    Aber das soll natürlich kein Vorwurf sein - Vater und Mutter hatten wirklich ein Recht, müde zu sein und alles abzulehnen, was über den Kampf ums tägliche Brot hinaus Willen und Kraft forderte. Dieser Kampf wurde immer schwerer. Vater war nicht gesund. Er litt an Krampfanfällen. Es waren oft bange Stunden, wenn er von einem Geschäftsgang nicht wiederkam und dann endlich gebracht wurde - meist von der Polizei, die ihn irgendwo auf der Straße in Krämpfen gefunden hatte. Diese schwere Hemmung wurde überwunden, als ich etwa neun Jahre alt war. Vater mußte sich einen Zahn ziehen lassen. Ob irgendein Fehler dabei vorkam, weiß ich nicht. Jedenfalls war das Bluten nach dem Zahnziehen nicht zu stillen. Auch ein in der Angst herbeigerufener Arzt vermochte es erst zum Stillen zu bringen, als er feststellen mußte: »Nun noch einen Fingerhut voll, und das Leben ist verloren!« Nach diesem Blutverlust lag Vater lange Zeit krank. Als er sich aber erholte, waren die Krampfanfälle verschwunden.
     
     
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Handwerkersorgen
     
    Am häufigsten und zuletzt wohl ausschließlich wurden in unserer Werkstatt sogenannte Sofatische hergestellt. Das Kostbarste an ihnen war ihre dünne Mahagonischicht. Es war jedesmal eine große Aufgabe, diese teure Holzschicht so aufzulegen, daß keinerlei Unebenheiten entstanden. Vater war darin wohl übergenau. Von Kennern wurden seine Tische besonders geschätzt. Aber die Kenner bilden immer die Minderheit. Nach dem siegreichen Krieg von 1870/71 kamen die Neureichen jener Zeit auf, und Dessin, an den er die meisten Tische lieferte, sagte immer häufiger: »Sie müssen billiger arbeiten, Meister! Die Leute, die Tische kaufen, haben wirklich kein Urteil über die Sorgfalt, die Sie darauf verwenden - billig, billig!« Und dann kam der Jammer, daß die Möbelfabriken die gelieferten Tische nicht gleich bezahlten, sondern auf Lager nahmen, während Vater den Gesellen jeden Sonnabend den Lohn auszahlen mußte. Wie oft ist da Mutter gegangen, Freitag oder Sonnabend, und hat Wertgegenstände versetzen müssen, nur damit am Sonnabend der Lohn zur rechten Zeit vorhanden war. Es ist heute noch eine der erbärmlichsten Pflichtverletzungen auf sozialem Gebiet, wenn Leute die Bezahlung der Dienste des Handwerkers »vornehm« vergessen und hinausschieben. Sie wissen gar nicht, wieviel Verlegenheit, wieviel wirkliche Not sie dadurch verbreiten! Das Wort der Bibel, daß man mit dem Auszahlen des Lohnes nicht länger zögern dürfe, als bis die Sonne untergehe, sollte viel mehr als eine ernste soziale Pflicht erkannt und geübt werden.
    Und dazu kam der ungeheuerliche Zwischenverdienst. Als ich einmal mit Vater über den Gendarmenmarkt ging und einen Neuaufbau des Möbelgeschäfts von Pfaff sah, fuhr er bitter auf: »Das wird zum Teil auch aus unseren Knochen erbaut!« Es ist ja noch eine große Frage, wie der Weg vom Erzeuger zum Verbraucher gewonnen werden kann, ohne daß der Zwischenhandel den Hauptteil des Verdienstes beschlagnahmt. Das Problem wird wohl noch manche Geschlechter beschäftigen. Irgendwie aber muß es einmal in anderer Weise gelöst werden, als es heute noch der Fall ist.
     
     
     
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Unser Haus
     
    Unsere wirtschaftliche Lage zu jener Zeit kann ich rückblickend nicht übersehen. Ich weiß nur, daß wir ein Haus in der Bellermannstraße besaßen. Das ist eine Straße im Norden Berlins, die erst in neuester Zeit durch die sogenannte Millionenbrücke dem Verkehr erschlossen worden ist. Wir machten öfter Sonntagsspaziergänge nach diesem Hause. Die Gegend war in jener Zeit fast noch ganz ländlich. Oft überlegten die Eltern, ob sie nicht in dieses ihr Haus ziehen wollten; aber die Entfernung zu den großen Möbelhandlungen blieb immer ein Hinderungsgrund. Von unseren Mietern wurde natürlich häufig gesprochen. Ich habe nur die Schilderung eines sehr ungleichen Paares behalten, das ich dann mit erstaunten Augen sah. Der Mann war außerordentlich groß und breit und die Frau klein und dürr. Aber die Frau hatte so unbedingt die Herrschaft im Hause, daß lachend

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